Das Monster von Bozen
wäre das ein Alibi, oder?«
»Möglicherweise.«
Wieder dachte Mantinger einen Moment nach. »Wissen Sie was? Vielleicht finden Sie noch mehr Spuren von mir. Als ich nämlich meinen Rucksack Samstagabend geleert habe, fehlte eine von meinen SIGG-Trinkflaschen, eine blaue, 1,5 Liter. Ich nehme an, Sie kennen die?«
»Sie glauben, Sie haben sie dort verloren?«
»Das weiß ich nicht, ich habe nur gesagt, dass sie weg ist. Wenn Sie die Flasche finden, bringen Sie sie mir dann wieder mit? Die ist noch ziemlich neu.«
Vincenzo verabschiedete sich, ohne darauf einzugehen. »Danke, Signor Mantinger, das war’s fürs Erste.«
Er würde heute früher nach Hause fahren, um auf die Jakobsspitze zu steigen. Mantingers Erläuterungen klangen logisch, und er konnte die Motive aus eigener Erfahrung bestens nachvollziehen. Er fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass jemand, der die Natur so sehr liebte, tatsächlich zugleich ein eiskalter Mörder sein könnte.
Oder doch? Menschen hatten oft viele widersprüchliche Facetten. Bei Tätern entdeckten sie manchmal zwei von Grund auf verschiedene Gesichter, die überhaupt nicht zusammenpassten, eines für die Außenwelt, das andere Menschen wahrnehmen konnten und sollten, und ein anderes, das in der Tiefe der Seele verborgen lag und selten den Weg an die Oberfläche fand. Aber wenn, dann brach es mit Macht durch. Anders war es nicht zu erklären, dass sonst liebevolle Familienväter sich an Kindern vergehen konnten. Es waren solche Fälle, bei denen das Umfeld fassungslos war: »Sie müssten sehen, wie mein Mann mit unseren Kindern umgeht, dann wüssten Sie, dass Sie den Falschen haben« oder »Wie fürchterlich, das war doch so ein sympathischer Mann«. »Er hat immer so freundlich gegrüßt«, »er war stets hilfsbereit« … wäre der Mensch nicht oftmals ein so widersprüchliches Wesen, wäre polizeiliche Ermittlungsarbeit ein einfacheres Unterfangen.
Mit diesen Gedanken betrat er das Büro eines Familienvaters. »Machen wir es kurz, Signor Schimmel, ich bin gekommen, um Ihr Alibi zu überprüfen.«
Schimmel machte keinen Hehl daraus, was er von dem neuerlichen Besuch der Polizei hielt. »Herrgott, ich habe Ihnen doch alles erzählt. Was wollen Sie denn noch?«
»Sie haben uns gesagt, dass Sie in der Zeit, als Ihr Kollege Ernesto Panzini ermordet wurde, allein durch Bozen marschiert sind.«
»Sie sagen es.«
»Das ist ein dünnes Alibi, zumal Sie mit Sicherheit niemandem begegnet sind, vor allem niemandem, der Sie kennt, habe ich recht?«
»Wenn es halt so ist? Soll ich mein ganzes Leben darauf ausrichten, für jede erdenkliche Situation ein perfektes Alibi vorweisen zu können? Was haben Sie eigentlich für Vorstellungen?«
Vincenzo ließ sich durch Schimmels abweisende Art nicht irritieren. »Sie sind auf Ihrer Nachtwanderung nicht zufällig bei Ihrer Firma vorbeigekommen? Ich meine, Sie wohnen kaum mehr als zehn Fußminuten von der SSP entfernt.«
»Hören Sie, ich war nicht bei der SSP und erst recht nicht auf dem Penegal. Das müssen Sie mir glauben, Commissario!«
Vincenzo verzog sein Gesicht zu einem Ausdruck des Bedauerns. »Ich fürchte, glauben passt nicht zu meinem Berufsbild, Signore. Wenn Sie uns keine Zeugen benennen können oder Ihnen irgendetwas einfällt, was Ihre Angaben bestätigt, muss ich Sie bitten, Bozen bis auf Weiteres nicht zu verlassen. Ein Familienvater, der nachts alleine durch verlassene Straßen läuft? Wenig glaubhaft.«
Nachdenklich fuhr Vincenzo zur Questura zurück. Sie hatten vier Verdächtige. Mantinger war raus, wenn sie die Personen ausfindig machen konnten, die sich im Gipfelbuch verewigt hatten. Schimmels Verhalten hingegen war auffällig. Dass ein Ehemann und Vater mitten in der Nacht stundenlang durch Bozen rannte, war schwer vorstellbar. Das war vermutlich eine Schutzbehauptung, fragte sich nur, was es zu schützen gab. Den Mord an Panzini? Oder etwas völlig anderes, was er unter keinen Umständen aufdecken wollte? Franz Junghans und Salvatore Gemini hatten ohnehin keine Alibis. Vincenzo begriff allmählich, dass dieser Fall langwierig und zäh werden würde. Umso gespannter war er, was Marzoli herausgefunden hatte.
***
»Was warst du heute wieder hemmungslos!«, seufzte sie. »Gleich dreimal in der kurzen Zeit, unglaublich! Nimmst du etwa Viagra?«
»Quatsch, Süße, das liegt allein an dir.«
Sie kicherte. »Ja, das passt wirklich gut mit uns. Schön, dass du es auch mal tagsüber geschafft hast, mich zu
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