Das Monster von Bozen
seine Aufgabe erfüllt. Aus dem Fast-kein-Alibi war ein Fast-perfektes-Alibi geworden.
Fehlten nur noch die Aussagen der anderen Wanderer. Morgen würde er als Erstes Gipfelbuch und Trinkflasche zur Spurensicherung bringen, damit sie Fingerabdrücke nehmen und herausfinden konnten, wer die anderen Gipfelstürmer waren.
***
Carlos Mancini saß in seinem Ledersessel, blickte durch das Panoramafenster auf den Kalterer See und trank Pinot Grigio. Seine Frau war für zwei Wochen in die USA geflogen, zu einer Freundin, die einen Amerikaner geheiratet hatte. Ausgerechnet Amerika, das war nichts für ihn. Da konnte sie alleine hinfliegen. Für ihn war das kein Problem, er genoss es normalerweise, eine Weile allein zu sein.
Normalerweise. Aber was war in diesen Zeiten noch normal? Nichts, sein Leben war aus den Fugen geraten. Es hatte mit diesem mysteriösen Kontrollbeamten begonnen. Und plötzlich waren zwei Menschen tot. Angeblich Unfälle. Unfälle? Das konnte er sich kaum vorstellen. Warum hätte ihn dieser Commissario sonst in die Mangel nehmen sollen? Hatte dieser Mensch wirklich zwei Morde begangen? Einfach so?
Er öffnete die zweite Flasche. Seit einiger Zeit trank er zu viel, selten unter zwei Flaschen Wein pro Abend. Selbst Freunde, erst recht seine Frau, hatten ihn mehrfach darauf angesprochen. Ihm war auch nicht verborgen geblieben, dass sie im Amt hinter seinem Rücken tuschelten. Das war ihm völlig egal, ihm war allmählich alles egal. Köstlich, dieser Pinot Grigio, schön kalt, so musste er sein.
Sein Kompagnon hatte ihm unmissverständlich erklärt, dass er nichts mit dem Tod dieser beiden Menschen zu tun habe. Und hatte Mancini sich nicht stets auf ihn verlassen können? Vielleicht gab es wirklich keinen Zusammenhang zu diesen beiden Vorfällen. Andererseits steckte er auch ohne irgendeinen Mord bis zum Hals im Schlamassel. Er würde irgendwann auffliegen, da durfte er sich nichts vormachen. Sein Leben war Müll. Ob seine Frau wirklich bei ihrer Freundin war? In letzter Zeit war sie auffällig reserviert. Sie hatte bloß einmal angerufen, um zu sagen, dass sie gut angekommen war.
Plöpp – die dritte Flasche. Das Handy klingelte. »Am Apparat, jawohl, nicht wahr.«
»Du bist wieder betrunken!«
»Quatsch, wie kommst du denn darauf?«, lallte er.
»Reiß dich am Riemen, du Idiot. Wir müssen uns bald treffen, aber nicht in dem Zustand. Ich rufe dich in den nächsten Tagen wieder an. Halt dich mit dem Saufen zurück, verdammt noch mal!«
Klick, das Gespräch war beendet. So abweisend und schroff. Manchmal hatte Mancini richtig Angst vor ihm und seiner Unberechenbarkeit. Wer weiß, wozu der Mann tatsächlich fähig war.
Mancini stand auf und ging schwankend zu seinem Aktenschrank, nicht, ohne sich vorher noch einen kräftigen Schluck zur Stärkung zu genehmigen. Er zog einige Ordner vor und nahm eine Holzkiste an sich, die dahinterlag. Er torkelte zurück zu seinem Sessel, ließ sich hineinplumpsen, goss sich nach. Dann öffnete er die Kiste und nahm sie heraus. Er sah sie liebevoll an, wog sie in seinen Händen, zielte in Richtung See, betrachtete sie voller Ehrfurcht. Sie war bildschön, seine handliche Beretta 950 Jetfire, Kaliber 6,35 Browning. Gestatten, mein Name ist Bond, James Bond. Er, Carlos Mancini, Leiter des Amtes für Wirtschaftsförderung, besaß eine Waffe aus den Bond-Filmen. Er hatte die komplette Bond-Sammlung. So konnte er sich selbst in die Rolle des unbesiegbaren, draufgängerischen Helden hineinträumen. Manchmal hatten die Guten die Waffe, manchmal die Bösen. Wozu gehörte er eigentlich?
Vielleicht hatte sein Partner die beiden doch auf dem Gewissen. Dann war er vielleicht der Nächste. Wenn Mancini daran dachte, wie aufbrausend dieser Mensch eben wieder war, wie brutal er dann wirkte, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Andererseits …
Sollte er nur kommen, er war schließlich Bond. Und wenn er aufflog, wenn seine Frau nie wiederkäme … auch für ihn könnte das eine Lösung sein. Diese Müdigkeit, diese unendliche Müdigkeit …
16
Köln, Donnerstag, 9. Juli
Missmutig stiegen die beiden Beamten der Kriminalinspektion I die Treppe hinunter, die ins Archiv führte.
»Sag ens, Siggi, müsse mer uns jetz wirklich wäge dä Italiäner enstöbbe looße? Ich mein, ha’ mer dat nüdig?«, fragte Detlef Steiner in dem starken Kölner Dialekt, den er stets sprach. Er war untersetzt und deutlich kleiner als sein hagerer, fast zwei Meter großer
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