Das Monster von Bozen
und machte sich Notizen. Das war einer der Gründe, warum er niemals etwas vergaß. Vincenzo hatte keine Vorstellung, was er sich in diesem Moment notierte. »Exakt das meine ich, Commissario, Ihre Fähigkeit, sich in einen Handlungsablauf oder einen Täter hineinzuversetzen, wenn Sie sich am Tatort oder in der entsprechenden Umgebung befinden. Sehr schön. Haben Sie persönlich einen konkreten Verdacht, wenn Sie Ihr Gefühl fragen?«
Vincenzo nickte. »Ich bin davon überzeugt, dass es einer von den vieren ist. Und dass es eine Verbindung nach Köln gibt. Dort werden wir den Schlüssel zum Tatmotiv finden, dessen bin ich mir sicher. Allerdings habe ich keinen Favoriten. Mantinger können wir ausschließen, wenn sein Alibi stimmt.«
Baroncini war ein eher ernster Mensch. Selten kam es vor, dass er sich zu einem Scherz hinreißen ließ. Doch jetzt verzog er seinen Mund zu einem breiten Grinsen. »Um das zu überprüfen, würden Sie gerne die Jakobsspitze besteigen. Und zwar lieber heute als morgen, habe ich recht, Commissario?«
»Ja, Dottore, wir sollten keine Zeit verlieren. Ich schaffe das in vier bis fünf Stunden, heute wäre also Zeit genug.«
»Fahren Sie los, Bellini, sehen Sie zu, dass wir den ersten Verdächtigen von der Liste streichen können. Der Capo della Polizia hat schon, sagen wir mal, höflich nachgefragt. Es gibt Druck von allen Seiten, und die Presse können wir nicht ewig hinhalten. Bei zwei Todesfällen in so kurzer Zeit wittern die eine Riesenstory.«
Vincenzo fuhr nach Hause, um sich umzuziehen und die nötige Ausrüstung einzupacken. Er brauchte lediglich einen kleinen Tagesrucksack mit Regenzeug, Diktiergerät und Digitalkamera. Dann fuhr er zu seinem Ausgangspunkt Durnholz. Um kurz nach zwei ging er los.
Die über zweitausendsiebenhundert Meter hohe Jakobsspitze war ein beliebter Aussichtsberg, immer wieder kamen ihm andere Wanderer entgegen. Vincenzo schaffte die rund dreizehnhundert Meter im Anstieg in zwei Stunden. Oben angekommen, ging er zu dem kleinen Gipfelkreuz aus Holz und nahm das Gipfelbuch aus seinem Blechbehälter. Ein paar Einträge vom heutigen Tag, vom Vortag, er blätterte zurück, und dann: Freitag, 19. Juni, Samstag, 20. Juni, fünf Einträge am Samstag.
Der erste stammte von Klaus Mantinger.
Wie dankbar können wir unserem Schöpfer sein, dass er uns solch großartige Momente schenkt. Ich habe fast zwanzig Stunden hier oben verbracht. Es war ein unvergessliches Erlebnis.
Klaus Mantinger aus Bozen
Auch der letzte Eintrag am Freitag war von ihm:
Ich bin seit Stunden hier oben. Es ist traumhaft, ich habe sympathische Menschen getroffen, aber jetzt bin ich alleine. Über mir der Sternenhimmel, um mich herum die Silhouetten der Dreitausender. Welch ein erhabener Moment. Wie nah ich unserem Schöpfer bin.
Klaus Mantinger aus Bozen
Davor vier Namen, ein Pärchen und zwei Einzelwanderer. Vincenzo versuchte, die Unterschriften und Ortsangaben zu entziffern. Das Pärchen hieß Holger und Ursula aus Bamberg, leider kein Nachname. Die Einzelwanderer waren schwieriger zu entziffern. Ein Italiener, vielleicht Robaldo, oder eher Roberto, Rinaldo, schwer zu sagen. Der Nachname, auch nicht viel besser, hieß es Campetti? Oder Campitelli? Immerhin ein Nachname, und er kam aus Bozen, das machte die Sache einfacher.
Das Gipfelbuch war ein Beweisstück. Vincenzo steckte es in eine Beweismitteltüte und verstaute es im Rucksack. Wer in den nächsten Tagen hier heraufkam, und sich im Gipfelbuch verewigen wollte, hatte halt Pech.
Er suchte den Fels rund um das Gipfelkreuz ab, fand aber weder eine Trinkflasche noch andere Hinweise. Auf der kleinen felsdurchsetzten Wiese, die ihm Mantinger beschrieben hatte, entdeckte er Abdrücke von Heringen. Ja, irgendjemand hatte in der Tat vor Kurzem hier ein kleines Zelt aufgebaut. Er machte einige Fotos davon. Das musste ein Hartgesottener gewesen sein. Mantinger? Er suchte weiter, ging auf die Knie, um in Felsspalten hineinzuschauen. Wenn hier eine Trinkflasche umkippte, und man bemerkte es nicht, weil man zu viel Brunello intus hatte, wohin könnte sie dann rollen?
Er sah sich um. Es gab bloß eine Möglichkeit, ein größerer Fels, vielleicht zwei Meter schräg rechts unter ihm. Er ging darauf zu, bückte sich, konnte unter einen Felsvorsprung schauen. Dort lag sie, die blaue SIGG-Trinkflasche. Mit zwei Fingern zog er sie vorsichtig unter den Felsen hervor, ohne den Verschluss zu berühren, und tütete sie ein. Damit hatte er
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