Das Monstrum
Haven, wo leiser Fanatismus zum Lebensstil wurde, war Beachs Parteinahme extrem. Hätte er eine Ahnung von Gards immer stärker werdenden Bedenken gehabt, hätte er ihn beseitigt. Für immer. Und sofort, wenn nicht früher.
Es gab einen guten Grund für Beachs Empfinden. Im Mai – nicht lange nach Hilly Browns Geburtstag – hatte Beach einen schlimmen Husten bekommen, der nicht verschwinden wollte. Er war beängstigend, weil er nicht von Fieber oder einer rotzigen Nase begleitet wurde. Er wurde noch beängstigender, als er anfing, ein wenig Blut zu husten. Wenn man ein Restaurant betreibt, dann möchte man überhaupt nicht husten. Das gefällt den Kunden nicht. Es macht sie nervös. Früher oder später erzählt es jemand der Gesundheitsbehörde, und die machen einem vielleicht eine Woche den Laden dicht, während sie abwarten, was der TB-Test ergibt. Das Haven Lunch war bestenfalls mittelmäßig profitabel (Beach nahm zwölf Stunden täglich Bestellungen entgegen, damit ihm am Ende fünfundsechzig Dollar
pro Woche übrig blieben – hätte das Lokal ihm nicht schuldenfrei gehört, wäre er verhungert), und Beach konnte es sich nicht leisten, im Sommer den Laden eine Woche dichtgemacht zu bekommen. Der Sommer war noch nicht da, aber er kam schnellen Schrittes. Daher ging er zum alten Doc Warwick, und Doc Warwick schickte ihn zum Bruströntgen ins Derry Home, und als die Röntgenbilder zurückkamen, studierte Doc Warwick sie zwanzig Sekunden, dann rief er Beach an, und als Beach bei ihm war, sagte Doc Warwick: »Ich habe schlechte Nachrichten für dich, Beach. Setz dich hin.«
Beach setzte sich. Er hatte das Gefühl, er wäre auf den Boden gefallen, wenn kein Stuhl da gewesen wäre. Alle Kraft war aus seinen Beinen gewichen. Im Mai gab es noch keine Telepathie in Haven – jedenfalls nicht mehr als das normale Maß, welches die Leute immer haben –, aber dieses normale Maß war alles, was Beach brauchte. Er wusste, was Doc Warwick sagen würde, bevor er es aussprach. Keine TB, das große K. Lungenkrebs.
Aber das war im Mai gewesen. Jetzt, im Juli, fühlte sich Beach fit wie ein Turnschuh. Doc Warwick hatte ihm gesagt, er müsse damit rechnen, am 15. Juli im Krankenhaus zu liegen, und nun war er hier, aß wie ein Scheunendrescher, war meistens geil wie ein Frettchen und fühlte sich, als könnte er Bobby Tremain beim Wettrennen schlagen. Er war nicht noch einmal ins Krankenhaus gegangen, um sich die Brust röntgen zu lassen. Er wusste auch so, dass der große dunkle Fleck auf dem linken Lungenflügel verschwunden war. Außerdem: Was das anbelangte, wenn er ein Röntgenbild gewollt hätte, dann hätte er sich einen Nachmittag freigenommen und selbst einen Röntgenapparat gebaut. Er wusste genau, wie er das anstellen musste.
Aber jetzt, im Kielwasser der Explosion, waren andere Sachen zu bauen, andere Dinge zu tun … und zwar schnell.
Sie hielten eine Versammlung ab. Alle in der Stadt. Natürlich versammelten sie sich nicht wie bei einer normalen Stadtversammlung; das war unnötig. Beach briet weiterhin Hamburger im Haven Lunch, Nancy Voss sortierte weiter Briefmarken in der Post (jetzt, da Joe tot war, war sie wenigstens ein Ort, wo man sich aufhalten konnte, Sonntag oder nicht), Bobby Tremain blieb unter seinem Challenger und baute ein Rückfluss-Rebreather ein, mit dem es ihm möglich sein würde, rund siebzig Meilen mit drei Litern zu fahren. Nicht Andersons Benzinpille – nicht ganz – aber fast. Newt Berringer, der verdammt genau wusste, dass keine Zeit vergeudet werden durfte, fuhr zu den Applegates hinaus, so schnell er sich traute.
Aber unabhängig davon, was sie taten oder wo sie sich aufhielten, sie waren zusammen, ein Netz stummer Stimmen – die Stimmen, die Ruth so große Angst gemacht hatten.
Weniger als fünfundvierzig Minuten nach der Explosion hatten sich etwa siebzig Leute bei Henry Applegate versammelt. Jetzt, da die Shell-Tankstelle sich fast vollständig aus dem Reparatur – und Wartungsgeschäft zurückgezogen hatte, verfügte Henry über die größte und am besten ausgerüstete Werkstatt. Christina Lindley, die erst siebzehn war, aber dennoch im Vorjahr beim alljährlichen Fotowettbewerb von Maine den zweiten Preis gewonnen hatte, kam fast eine Stunde später an, verängstigt und außer Atem (und sich obendrein auch ziemlich sexy fühlend, um der Wahrheit die Ehre zu erweisen) nach einem Trip mit Bobby Tremain, der manchmal schneller als hundertzehn Meilen gefahren war. Wenn Bobby
Weitere Kostenlose Bücher