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Das Monstrum

Das Monstrum

Titel: Das Monstrum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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die untergehende Sonne durchließen, geschah etwas Merkwürdiges: Für einen kurzen Moment hallte, klar und deutlich, Musik durch seinen Kopf.
    Er blieb stehen und betrachtete den Sonnenschein, der sich über die hügeligen Weiten der nassen Wälder und Wiesen im Westen ergoss. Das Licht flutete herab wie die dramatischen Sonnenstrahlen in einem Bibel-Epos von DeMille. Die Route 9 begann hier anzusteigen, und der Ausblick nach Westen war weit und großartig und feierlich, das Abendlicht in seiner klaren Schönheit irgendwie englisch und pastoral. Der Regen hatte der Landschaft ein glänzendes, frisch gewaschenes Aussehen verliehen, er hob die Farben hervor und schien alle Strukturen auszufüllen. Plötzlich war Gardener sehr froh, dass er nicht Selbstmord begangen hatte – nicht auf die schmalzige Weise eines Art Linkletter, sondern weil ihm dieser Augenblick der Schönheit und der sinnlichen Wahrnehmung gewährt worden war. Während er hier stand, fast am Ende seiner Kraft, fiebrig und krank, überkam ihn ein ganz schlichtes, kindliches Staunen.
    Im letzten Sonnenschein des Abends war alles still und ruhig. Er konnte keine Anzeichen von Industrie oder Technologie sehen. Von Menschen, ja; eine große rote Scheune neben einem weißen Farmhaus, Schuppen, ein oder zwei Anhänger, aber das war alles.
    Das Licht. Es war das Licht, das ihn so seltsam berührte.
    Seine süße Reinheit, so alt und so tief – die Sonnenstrahlen, die fast horizontal durch die sich auflösenden Wolken fielen, während dieser lange, verwirrende und erschöpfende Tag sich seinem Ende näherte. Das uralte Licht schien
die Zeit selbst zu leugnen, und Gardener rechnete beinahe damit, einen Jäger ins Horn stoßen und das Halali blasen zu hören. Er würde Hunde und Pferdegetrappel hören, und …
    … und genau in diesem Augenblick dröhnte die kreischende, moderne Musik durch seinen Kopf und zerpflückte seine Gedanken. Seine Hände schnellten in einer Geste der Verblüffung an die Schläfen. Der Anfall dauerte mindestens fünf Sekunden, vielleicht sogar zehn, und er konnte genau erkennen, was er hörte; Dr. Hook sang »Baby Makes Her Blue Jeans Talk.« Der Text war blechern, aber hinreichend deutlich – als hörte er ihn aus einem kleinen Transistorradio, wie die Leute es früher mit an den Strand genommen hatten, bevor diese Punk-Rock-Gruppe Walkman and the Ghetto-Blasters die Welt überrannt hatten. Aber dieser Text drang nicht in seine Ohren; er kam aus der vorderen Seite seines Kopfes … von der Stelle, wo die Ärzte ein Loch in seinem Schädel mit einem Stück Metall verschlossen hatten.
    The Queen of all the nightbirds,
A player in the dark,
She don’t say nothing
But baby makes her blue jeans talk.
    Die Lautstärke war so hoch, dass es beinahe unerträglich war. Er hatte schon einmal so etwas erlebt, diese Musik in seinem Kopf, nachdem er mit dem Finger in eine Steckdose gegriffen hatte – war er damals betrunken gewesen? Mein Gott, scheißt der Bär in den Wald?
    Er hatte herausgefunden, dass solche musikalischen Heimsuchungen weder Halluzinationen noch sonderlich selten waren – Leute hatten Rundfunksignale mit den ihren
Plastikflamingos im Hof empfangen; mit ihren Zahnplomben; mit den Stahlgestellen ihrer Brillen. 1957 hatte eine Familie aus Charlotte, North Carolina, eineinhalb Wochen lang die Signale eines Senders für klassische Musik in Florida empfangen. Zuerst hörten sie sie aus dem Wasserglas im Bad. Bald griffen andere Gläser im Haus die Töne auf. Kurz vor dem Ende war dann das ganze Haus von den unheimlichen Lauten aus dem Glasgeschirr erfüllt gewesen, das Bach und Beethoven übertragen hatte, lediglich von gelegentlichen Zeitansagen unterbrochen. Als schließlich ein Dutzend Violinen einen langen, hohen Ton gehalten hatten, zersprangen fast alle Gläser im Haus gleichzeitig, und damit endete das Phänomen.
    Daher hatte Gardener gewusst, dass er nicht allein war, und war sich sicher, nicht den Verstand verloren zu haben – aber das war kein Trost, und nach dem Zwischenfall mit der Steckdose war es nie mehr so laut gewesen wie jetzt.
    Die Musik von Dr. Hook verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Gardener stand verkrampft da und wartete, dass sie von Neuem ertönen würde. Was nicht geschah. Was stattdessen kam, lauter und drängender als je zuvor, war eine Wiederholung von dem, was ihn in Marsch gesetzt hatte: Bobbi ist in Schwierigkeiten!
    Er wandte sich vom Ausblick im Westen ab und schritt wieder die Route

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