Das Moor Des Vergessens
sein sollte. Sie zog die Augenbrauen hoch, eine angedeutete Geste der Verachtung. »Wer'sn das, Mann?«
Er tat erstaunt. »Du hast noch nie von Geno gehört? Mädchen, du hast ja keine Ahnung. Geno war der größte Soulsänger, den es in diesem gottverlassenen Land gegeben hat.«
Sharon, ungeduldig wegen all dieser Aufmerksamkeit, die nicht ihr galt, mischte sich ein und sagte gereizt: »Hasse nich irgend 'nen Kram, wo de dich drum kümmern musst?« Dankbar für die Gelegenheit zu entkommen, näherte sich Tenille der Tür. Aber Geno wollte nicht weichen. Tenille musste um ihn herumgehen und Sharon zur Seite treten, wobei sie ärgerlich den Kopf schüttelte. Dann war sie frei, draußen im Flur, und nahm plötzlich wahr, dass ihr Atem schneller ging.
Das war nur der Anfang gewesen. Tenille fühlte sich unbehaglich und nervös, wann immer Geno da war und sie sich nicht verdrücken konnte. Im Allgemeinen gelang es ihr, ihm auszuweichen, aber im Lauf der nächsten Wochen, als sich herausstellte, dass er Sharon nicht so bald verlassen würde, wurde es immer schwieriger. Nach drei Wochen war er praktisch zu ihr gezogen und immer da, wenn Sharon zu Hause, und manchmal sogar, wenn sie bei der Arbeit war. Tenilles Leben spielte sich immer mehr außerhalb der Wohnung ab. Wenn es ging, war sie bei Jane, und wenn es nicht klappte, hielt sie sich auf der zugigen Galerie vor den Wohnungen und in den nasskalten Treppenhäusern der Siedlung auf. Vor sich selbst tat sie sogar so, als sei das alles das Resultat ihrer eigenen freien Entscheidung. Denn das war immer noch besser, als der Angst einen Namen zu geben, die sie nicht akzeptieren wollte.
Aber sie konnte sich nicht ewig etwas vormachen. Sharon würde früher oder später auch mal Nachtschicht haben, und als diese Woche kam, war Tenille nicht erstaunt, dass ihre Tante verkündete, Geno würde in der Wohnung übernachten, um ein Auge auf sie zu haben. Es war keine Überraschung, sie spürte nur eine heiß im Bauch aufsteigende Angst. »Ich hab noch nie einen Babysitter gebraucht, wenn du mal nachts weg warst«, hatte Tenille protestiert. »Meinst du, ich hätte mich dabei wohl gefühlt, dich allein zu lassen?«, forderte Sharon sie heraus.
»Ich bin doch kein kleines Kind. Ich brauch keinen Babysitter.«
»Du bist noch nicht volljährig. Ich hab ein besseres Gefühl, wenn ich weiß, dass jemand hier bei dir ist.« Sharon sammelte ihre Make-up-Sachen zusammen und stopfte sie in ihre unechte Louis-Vuitton-Tasche, die ihr Geno geschenkt hatte. Er war eingebildet herumstolziert wie ein Pfau, während Tenille ihn verächtlich ansah, denn sie wusste, dass er sie auf einem Straßenmarkt für 'n paar Groschen mitgenommen hatte.
»Es hat dir doch sonst nie was ausgemacht. Du hast mich hier machen lassen, seit ich acht bin.« »Und das war nicht richtig. Geno hat mir das klar gemacht. Er hat mir gesagt, dass in letzter Zeit den Mädchen in der Gegend hier schlimme Sachen passiert sind.« Tenille zitterte. »Mir passiert schon nix. Ich brauch Geno nicht, damit er mich beschützt. Ich mag Geno nicht«, versuchte sie verzweifelt sich durchzusetzen, schämte sich aber irgendwie, auszusprechen, was sie wirklich an ihm störte. »Er ist ein guter Mann«, sagte Sharon. »Ärgere ihn nicht, hörst du?« Ihr Ton klang endgültig und bestimmt, und Tenille wusste, dass es nichts brachte, dagegen anzugehen. Sie nahm ihren Mantel vom Stuhl und trat auf die Tür zu. »Er wird später da sein. Bring ihn nicht durcheinander, hörst du?«, fügte sie hinzu und drehte sich, einen finsteren Blick misstrauischer Wut auf ihrem hübschen Gesicht, rasch zu ihr um.
Tenille schmollte und murmelte: »Ich hab's gehört.« Die Tür hatte sich kaum hinter ihrer Tante geschlossen, als sie aufstand, ihre Jacke überstreifte, einen MP3-Player und zwei Bücher in ihren Rucksack warf und in die frühe Abenddämmerung hinausging. Sie steuerte direkt auf Janes Wohnung zu, aber drinnen war es dunkel, und auf ihr Klopfen hin kam keine Reaktion. Tenille steckte die Hand in die Tasche und tastete nach dem Schlüssel. Sie hatte sich schon vor Monaten den Extraschlüssel aus der Küchenschublade »geliehen«, ihn nachmachen lassen und dann zurückgebracht, bevor Jane bemerkt hatte, dass er weg war. Aber sie gebrauchte ihn nur mit Vorsicht. Es war nur eine Absicherung, solange Jane nicht wusste, dass sie ihn hatte. Als dieser nichtsnutzige Wichser Jake noch da war, hatte sie es nie gewagt, sich hineinzuschleichen, da sie
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