Das Moor Des Vergessens
abgesehen, würde sie in einer Buchhandlung ja auch genauso auffallen wie ein Businessdreiteiler im wilden Tanzgewühl eines Hip-Hop-Konzerts. Schon bei dem Gedanken daran verdrehte sie die Augen und verzog die Lippen zu einem spöttischen Lächeln. Und sie hatte auch nicht die Absicht, ihre Tage in irgendeinem Dreckloch von Wohnung zu verbringen und sich DVDs mit einem Haufen von Losern reinzuziehen, die sich nur mit Gras, extra starkem Apfelwein oder Alkopops zudröhnen wollten.
Als Sharon noch allein war und im Cafe unten arbeitete, war es nicht so schlimm gewesen. Wenn ihre Tante um zehn wegging und sie sicher sein konnte, dass sie nicht zurückkommen würde, schlich sich Tenille wieder in die Wohnung, kuschelte sich unter ihre Steppdecke und las, bis der Unterricht beendet war und sie einen der Computer in der Bücherei benutzen konnte, um online zu gehen und sich in den Chatrooms aufzuhalten. Dort fand sie andere Außenseiter, die Lyrik lasen und darüber sprechen wollten. Wenn sie unbedingt eine andere menschliche Stimme hören wollte, ging sie in Jane Greshams Wohnung hinunter. Wenn Jane zu Hause war, ließ sie Tenille normalerweise hereinkommen. Sie durfte dann in den Büchern schmökern, und wenn Jane nicht zu viel zu tun hatte, tranken sie manchmal miteinander Kaffee und unterhielten sich. Außer wenn Jane sie reinlegte und ihr mal wieder predigte, sie solle doch nicht so herumgammeln.
Als ob irgendjemand ihr in dem Saftladen, der sich Marshpool-Gesamtschule nannte, jemals etwas beibrächte, das sie im Leben auch nur einen Schritt voranbringen würde. Jane hatte Tenille von den Chatrooms erzählt und ließ sie sogar gelegentlich, wenn sie las oder den Rechner gerade nicht brauchte, ihren Computer benutzen. Die Chatrooms waren für Tenille zum Rettungsanker geworden und boten ihr einen Zufluchtsort, wo sie der Mensch sein konnte, für den sie sich tief in ihrem Inneren in Wirklichkeit hielt. Nach den Maßstäben der meisten Leute war das nicht viel. Aber es genügte, um einen dünnen Lichtstrahl von Optimismus in Tenilles Leben hereinzulassen.
Ein paar Wochen zuvor war das aber alles in die Brüche gegangen. Es fing damit an, dass Sharon die Stelle im Cafe aufgab, um eine Arbeit in der Werkskantine einer Plastikfabrik am Ort anzunehmen. Statt regulärer Arbeitszeit am Tag arbeitete sie jetzt Schicht, und Tenille verlor in zwei von drei Wochen tagsüber jeweils eine beträchtliche Anzahl an Stunden an ihrem Zufluchtsort.
Das wäre schlimm genug gewesen, obwohl Tenille immer neue Ideen entwickelte und Mittel und Wege fand, das Problem zu umgehen. Aber Sharon hatte jetzt auch noch einen neuen Freund gefunden.
In den sieben Jahren, seit ihrer Tante offiziell das Sorgerecht für sie übertragen worden war, hatte Tenille sich an den stetigen Strom von Männern gewöhnt, die sich auf unbestimmte Zeit in der Wohnung niederließen. Sie hatte gelernt, ihnen aus dem Weg zu gehen, wenn sie da waren. Sharon wollte nicht, dass der Bastard ihrer toten Schwester, die ein Junkie gewesen war, sie vertrieb, und machte Tenille klar, sie solle weder zu sehen noch zu hören sein, wenn sie Besuch hatte. Also schloss sich Tenille stundenlang in ihrem Zimmer ein und versuchte, die animalischen Geräusche zu überhören, die durch die Wände und unter der Tür hindurchdrangen. Sie schlich hinaus, wenn die Luft rein war, und stürzte sich auf alles, was sie im Kühlschrank und den Küchenschränken finden konnte, um den Hunger zu stillen, der sie plagte. Manchmal kam sie sich vor wie das unsichtbare Kind, ein Phantom, das sich in Ritzen und Winkeln verkroch, wo sich sonst niemand aufhalten wollte. Der Gedanke war ihr nicht angenehm, aber in letzter Zeit hatte sie sich nach dieser Art von Unsichtbarkeit gesehnt.
Es war ihr natürlich schon vor Geno Marleys Erscheinen in ihrem Leben aufgegangen, dass es eindeutig von Vorteil war, wenn man sich der Aufmerksamkeit gewisser Leute entziehen konnte. Schuleschwänzen und Ladendiebstahl wurden dadurch sehr erleichtert. Aber was Sharons Freunde anging, hatte sie geglaubt, der einzige Vorteil, den sie davon hatte, unbemerkt zu bleiben, liege darin, dass sie Sharons Wutanfällen entging, die immer dann auftraten, wenn sie versehentlich das Liebesleben ihrer Tante störte. Obwohl sie theoretisch darüber Bescheid wusste, dass Männer Kinder wie sie belästigten, hatte sie selbst noch keine Erfahrung damit gemacht. Der Typ von Männern, die die eher reiferen Reize ihrer Tante anziehend
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