Das Moor Des Vergessens
als beschämend betrachtet wurde, wahrscheinlich sowohl für ihn selbst als auch für Fletcher? Der tiefere Grund für Fletchers Meuterei könnten also Blighs sexuelle Übergriffe gegenüber Christian und Heywood gewesen sein.« Harry lachte laut auf. »Jane, du solltest Romane schreiben, keine Interpretationen. Gilt so was als streng wissenschaftliche Arbeit in der anglistischen Abteilung?« Er trat zu ihr hinter den Tresen, nahm Gläser aus dem Geschirrspülautomaten und stellte sie auf die Regale.
Jane stützte sich auf die Theke und grinste. »Vielleicht sollte ich ja tatsächlich Romane schreiben. Und wenn ich es täte, dann würde ich mit William Wordsworths verschollenem epischem Gedicht beginnen.«
»Wordsworths verlorenes episches Gedicht?«, sagte Harry verwirrt.
»Sie hat das Beste bis zum Schluss aufgehoben, Harry«, sagte Dan. »Das ist jetzt der große Moment. Du wirst begeistert sein.«
Jane sprach trotzdem weiter. »›Unschuld und Verworfenheit, die wahre Geschichte der Meuterei auf dem Schiff Bounty in der Südsee‹, oder etwas ähnlich Wordsworthmäßiges.« »Hä?«, sagte Harry.
»Sie sind zusammen zur Schule gegangen, Harry. William Wordsworth, der verehrte Dichter und Meister der Romantiker aus dem Lakeland, und Fletcher Christian, der Meuterer auf der Bounty, sind zur gleichen Zeit auf der Hawkshead School gewesen. Fletchers Bruder Edward unterrichtete sie. Er wurde dann Juraprofessor an demselben College in Cambridge, wo Wordsworth seinen Abschluss machte. Und er vertrat die Familie Wordsworth in einem wichtigen Prozess. Wem also sollte Fletcher seine Version der Ereignisse mitteilen, wenn nicht seinem alten Schulfreund? Dem Freund seiner Familie, der später ein berühmter Literat werden sollte. Und selbst wenn er wusste, dass er es wegen der möglicherweise schlimmen Folgen selbst nie würde veröffentlichen können, hätte Wordsworth eine so bedeutsame Geschichte nicht links liegen lassen können, oder?«
Obwohl ich ihm nicht antwortete, sprach er weiter. Der Mann schien ganz unbefangen und machte es sich auf der Bank bequem, die neben meinem Arbeitstisch steht. Er streckte die Beine aus und legte die Füße übereinander. »Erkennst du mich immer noch nicht, William?«, sagte er mit amüsiertem Unterton. Beim Sprechen schob er den Hut nach hinten und ließ mich zum ersten Mal sein ganzes Gesicht sehen. Viele Jahre waren vergangen, seit ich zum letzten Mal einen Blick auf sein Antlitz geworfen hatte, aber ich erkannte ihn sofort. Zeit und Erfahrung hatten ihre Spuren darauf hinterlassen, aber nicht vermocht, seine charakteristischen Gesichtszüge zu verwischen. Meine Vermutung wurde zur Gewissheit, und das Herz tanzte mir vor Freude in der Brust.
4
Tenille wusste alles über Chancen. Ihr war klar, dass die Lehrer, obwohl sie so gern ihre scheinheiligen Sprüche über die Möglichkeiten ihrer Schüler losließen, eigentlich meinten, Menschen wie sie hätten keine Wahl. Nicht auf die gleiche Art und Weise wie die Lehrer und ihre Schüler aus der Mittelschicht. Im Grunde ihres Herzens dachten sie, dass Schüler wie Tenille in ihrem derzeitigen Leben ohne Hoffnung auf eine Verbesserung bleiben würden. Was immer sie also versprachen, ihr Verhalten verkündete etwas anderes, nämlich: Du wirst Drogen nehmen, in Geschäften klauen, als Teenager schwanger werden und ein beschissenes Leben in einer elenden Wohnsiedlung führen, bis du vorzeitig sterben wirst, weil du rauchst, trinkst oder arm bist. Warum gebe ich mir also Mühe, euch irgendetwas beizubringen? Aber sie täuschten sich. Sie hatte Möglichkeiten, auch wenn sie nicht so offenkundig oder vielfältig waren wie die der meisten Dreizehnjährigen. Tenille war sich verdammt sicher, dass sie mehr auf dem Kasten hatte als der Rest der Null-Bock-Kids aus der Marshpool-Farm-Siedlung. Deshalb trieb sie sich nicht mit den anderen Schulschwänzern herum. Ihr ging es nicht darum, den Aufpassern in der Schule oder den Sicherheitsleuten in den Einkaufspassagen und Spielsalons zu entgehen. Sich den Banden anzuschließen, die billige Kleider und wertloses Make-up klauten, hatte für sie keinen Reiz. Nicht dass sie sich zu gut dazu gewesen wäre, Sachen mitgehen zu lassen. Nur eben nicht den Schrott, den die anderen interessant fanden. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Aleesha Graham und ihre Bande zum Überfall auf eine Waterstone-Buchhandlung zu überreden wären, um Gedichtbände an sich zu bringen. Von allem anderen
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