Das Moor Des Vergessens
Aber wenigstens würde sie sich alle Untersuchungen leisten können, die erforderlich waren, um von dem geheimnisvollen Toten ein so vollkommenes Bild wie möglich zu schaffen. Es war ein unerhörter Luxus, weil der praktische Teil ihrer Arbeit zur Identifizierung menschlicher Überreste normalerweise einen Minimalaufwand erforderte. Meistens diente ihre Arbeit dazu, dass die Lebenden einen Schlussstrich ziehen konnten. Für die Verwandten von Soldaten, bei Zivilisten, die bei Massakern umgekommen waren, bei Opfern von Naturkatastrophen, Bergsteigern oder in flachen Gräbern verscharrten Leichen ging es nur um die Identität. Dies hier war dagegen etwas ganz anderes. Hier ging es darum, die Geschichte eines Mannes zu enträtseln. Die Identifizierung wäre dabei nur ein zusätzlicher Bonus. Sie folgte dem Leichenwagen auf den Parkplatz hinter der imposanten viktorianischen Villa, in der sich Gibsons Bestattungsunternehmen befand, und wartete geduldig, während die Männer die Leiche auf eine Rollbahre legten und dann in den Präparierungsraum fuhren. Laut Andrew Gibson, dem jetzt etwa dreißigjährigen Ururenkel des ersten Gibson, war diese Halle eingerichtet worden, als das Haus im Jahr 1884 gebaut wurde, und außer den modernen Sanitäranlagen war kaum etwas verändert worden. Die Wände wurden von rechteckigen weißen Fliesen bedeckt, deren altersbedingter leichter Craquelé-Effekt sie weniger kalt wirken ließ. Die Arbeitstische waren aus massivem Mahagoni und die ursprünglichen Keramikeinsätze durch solche aus Edelstahl ersetzt worden. Die Arbeitsflächen und die Schränke waren alle aus dem gleichen Holz. Durch die Glastüren sah sie Becher und Messkolben, die aus derselben Zeit hätten stammen können. Man konnte sich leicht Männer in Frack und Vatermörder vorstellen, die in diesen vier Wänden ihrer Arbeit an den Toten nachgingen. River war sofort begeistert gewesen, als sie diesen Raum zum ersten Mal sah. Und sie wusste einfach, dass das Fernsehteam genauso reagieren würde. Sie hoffte, dass bei den Aufnahmen eine Atmosphäre wie in einem Sherlock-Holmes-Krimi entstehen würde, nur wäre es eben Wirklichkeit.
Die Männer luden ihre Last auf einem der Tische ab. River zog langsam den Reißverschluss des Sacks auf und ließ Luft an die sterblichen Überreste heran.
Sie sah auf die fleckige Haut, die verschrumpelten Gliedmaßen und das dunkle Haar hinunter und versuchte sich vorzustellen, wie der Mann ausgesehen haben mochte. Einst hatten diese Beine ihn über die Pfade der Hochmoore getragen. Einst, darauf würde sie wetten, hatten sie ihm geholfen, auf dem schwankenden Deck eines Segelschiffs das Gleichgewicht zu halten. Diese Arme hatten Segel gesetzt, hatten ihn beim Auftakeln gehalten und Taue gesplissen. Sie hatten andere warme Körper umarmt. Dieser Mund hatte geküsst, gegessen, gesprochen und auch getrunken. Er war ein lebendiges, atmendes Geschöpf gewesen, genau wie sie. Jetzt war es ihre Aufgabe, ihn noch einmal zum Leben zu erwecken.
Dreihundert Meilen von ihr entfernt verspeiste Jane zusammen mit Dan und Harry in der Trattoria Guido einen großen Teller Spaghetti.
Dan hatte das Restaurant in einer kleinen Seitenstraße in der Nähe der Universität entdeckt. Es sah aus, als hätte sich an der Einrichtung seit den siebziger Jahren nichts geändert. Rot-weiß karierte Tischdecken, tropfende Stearinkerzen auf Chiantiflaschen, schlechte Wandbilder von Sorrent - all das gab einem das Gefühl, die Zeit sei stehen geblieben. Auch an der Speisekarte waren alle modischen Neuerungen vorübergegangen. Man suchte vergeblich nach Balsamico-Essig, getrockneten Tomaten, Büffelmozzarella oder Rucola. Die Grundlage aller Speisen hier waren Spaghetti, Penne und Tagliatelle, die Standardsaucen waren Bolognese, Carbonara, Arrabiata und Marinara. Aber das Essen war gut, die Portionen waren üppig und die Preise niedrig. Deshalb hatte man die Stammgäste, Büroangestellte und Studenten, halten können, denen Substanz wichtiger war als die Form. Jane aß hier mindestens zweimal die Woche.
Harry kaute noch an seiner Lasagne und sagte: »Ich kann's kaum glauben, dass Miss Elliott dir deine Geschichte abgekauft hat, Jane. Nach dem, was Dan mir von ihr erzählt hat, dachte ich, sie sei zäh wie Juchtenleder.« »Ist sie auch«, sagte Dan. »Aber sie ist auch schlau genug, dass sie mit an Bord sein will, wenn sich herausstellt, dass Jane Recht hat. Also, Jane, wie lautet der Aktionsplan?« »Immer vorne anfangen«,
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