Das Moor Des Vergessens
»Trottel«, schalt sie sich selbst, denn sie merkte, dass sie ins Bett getaumelt war, ohne sich abzuschminken. Sie rieb sich das Mascara von den Wimpern und seufzte. Dann setzte sie sich langsam auf und wünschte, sie hätte es nicht getan. Ihr Magen rebellierte, saures Aufstoßen neben dem üblen Geschmack in ihrem Mund bildete ein unangenehmes Gemisch. Ihre Stirn tat weh, und unerklärlicherweise schmerzten auch ihre Beine, als sie sie bewegen wollte.
Irgendwie quälte sie sich aus dem Bett und torkelte zur Tür, wobei sie sich im Vorbeigehen ihren Morgenrock schnappte. Sie hatte Mühe, in die Ärmel zu schlüpfen, und rief dem, der ihre Tür eintreten wollte, zu: »Okay, okay, ich komm ja schon.« Der laute Klang ihrer eigenen Stimme ließ sie zusammenzucken. Jane schloss auf, nahm die Sicherungskette ab und riss die Tür auf. »Was, zum Teufel ...«, fing sie an, merkte dann aber, dass sie nur ins Leere redete, denn Tenille hatte sich an ihr vorbeigedrängt und stürzte ins vordere Zimmer. Jane rieb sich mit der Hand übers Gesicht. Allerdings wurde ihr dadurch nichts klarer, also schloss sie mit einem Seufzer die Tür und folgte Tenille.
Jane stand an den Türrahmen gelehnt und betrachtete das Häufchen Elend, das sich auf dem Knautschsessel zusammenkauerte. »Bevor du den Mund aufmachst, Tenille, sollte ich dir sagen, dass ich einen höllischen Kater hab. Ich hoffe, du hast einen guten Grund, mich zu wecken.« Tenille zitterte und steckte einen Finger in den Mund. Jane sah, dass sie fest darauf biss. Sie brauchte in ihrem benebelten Zustand einen Moment, bis sie das erkannte, aber schließlich wurde ihr klar, dass das Kind mit aller Macht gegen die Tränen ankämpfte. Das war so schockierend, dass Jane schlagartig klar im Kopf wurde. Seit sie Tenille kannte, hatte sie sie wütend, frustriert, unter Ungerechtigkeit leidend, trotzig und herausfordernd gesehen, aber nie den Tränen so nahe wie jetzt. Sie hatte auch noch nie so jung ausgesehen. Die Augen waren groß, aber der Rest ihres Gesichts schien eingefallen zu sein. Der zukünftige Schönheit verheißende Reiz war verschwunden, und an seine Stelle war eine angespannte Verletzlichkeit getreten.
Jane ging zu Tenille und ließ sich neben ihr in die Hocke nieder. Vorsichtig legte sie ihr einen Arm um die Schulter. Normalerweise hatten sie keinen Körperkontakt. Aber Tenille ließ sich angespannt und steif in ihre Arme fallen. Jane sagte nichts, sondern streichelte nur immer wieder den Arm des Mädchens. Dann war der Bann gebrochen. Tenille drückte sich an sie wie ein Lamm, das mit dem Kopf gegen seine Mutter stößt, und fing an zu weinen. Es begann mit stillen Tränen und schwoll dann zu einem verzweifelten, würgenden Schluchzen an, dessen Gewalt sie beide erschütterte. Jane war völlig ratlos. Sie konnte sich an kein Trauma ihrer Jugendzeit erinnern, das sie so mitgenommen hätte. Sie hatte Tränen vergossen, aber niemals auf diese hemmungslose, hilflose Weise. Plötzlich verfiel sie in die abgenutzten üblichen Plattitüden wie: »Soso« und »Ist ja schon gut, Tenille, alles in Ordnung.« Aber nichts schien gegen diesen überwältigenden Schmerz zu helfen.
Schließlich legte sich das schreckliche Schluchzen, Tenille richtete sich auf und wischte Augen und Nase mit dem Handrücken ab. Ihre Lider waren geschwollen, und sie atmete
heftig durch den Mund. »Tut mir leid«, sagte sie mit dumpfer Stimme.
»Ist schon gut. Dafür hat man ja Freunde«, sagte Jane und verachtete sich dafür, dass ihr nur Klischees einfielen. »Willst du mir sagen, was los ist?«
Tenille wandte den Blick ab. »Du wars ja gestern Abend weg«, sagte sie vorwurfsvoll. »Ich bin vorbeigekommen, aber du wars weg.«
»Ich bin mit Freunden feiern gewesen«, sagte Jane. »Dann bin ich zur Wohnung runter. Ich wollte nicht, weil ich wusste, dass er da ist, aber du wars nicht hier, und ich konnte sonst nix machen.«
»Wer war da?« Jane fragte sich, ob ihr wegen des Alkohols etwas entfallen war. Wichtige logische Elemente schienen ihr in dieser Unterhaltung zu fehlen.
»Geno.« Tenille stieß das Wort hervor, als wolle sie einen üblen Geschmack im Mund loswerden. »Sharons Freund?« Kalte Furcht ergriff Jane. »Sharons verdammter Scheißfreund.« O nein, o Mist. »War Sharon nicht da?« »Sharon hat Nachtschicht. Sie sagt, er muss bei uns übernachten, damit mir auf keinen Fall was Schlimmes passiert.« Sie stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. »Sie ist so verdammt dämlich. Sie
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