Das Mordkreuz
war eine fundamentale Konsequenz dieses Denkens. Das schloss auch ein dogmatisches Glaubensbekenntnis aus, dafür aber ein individualisiertes Erleben von Gläubigkeit und die Vielfalt gleichberechtigter Kulte ein. Kurzum: Ich machte reinen Tisch mit der christlichen Gehirnwäsche und der Entmündigung des Einzelnen.
Meine Aufzeichnungen, die über die Monate beträchtlich an Umfang gewonnen hatten, bunkerte ich in einem Hohlraum der Gartenmauer. Dort konnte ich, ohne Verdacht zu erregen, jederzeit meinen Schatz pflegen. Würde mich eine Schwester erwischen, so blieb mir immer noch die Ausrede mit den Zutaten für die Küche. Insoweit lief alles reibungslos, nahezu perfekt. Wäre da nicht die Schwäche meines Bettnachbarn für Süßes gewesen. Er hatte es irgendwie geschafft, Zugriff auf die Dose mit Süßigkeiten zu bekommen, die von Schwester Margarethe in der Küche bewacht wurde. Zu Ostern, so der christliche Brauch, war es üblich, Osterhasen zu backen und das Auge mit einer Rosine zu schmücken. Uns Kindern wurde damit bewusst gemacht, welch besonderer Tag neben Weihnachten gefeiert wurde, wenn wir die Gnadenspeise in Empfang nehmen durften.
Schwester Margarethe musste etwas gemerkt haben. In der Dose fehlte eine Handvoll der süßen Beeren. Sie wusste, es gab nur eine Gelegenheit während des Tages, wenn derDieb seine Beute unbeobachtet und mit Genuss verzehren wollte. Sie lauerte uns auf. Nach dem letzten Kontrollgang ließ sie noch ein paar Minuten verstreichen, um dann zuzuschlagen.
Ich ahnte nichts, als es im Schein des Mondes neben mir zu rascheln begann. Ein wohliges Seufzen begleitete jede einzelne Beere in den Mund. Es störte mich nicht sonderlich, war es doch besser als jeder Albtraum, der uns der Reihe nach heimsuchte. Ich fingerte den Zettel aus meiner Unterwäsche heraus und begann die Notizen, die ich mir gemacht hatte, zu lesen. Aus einer frühchristlichen Überlieferung eines römischen Missionars wurde Bezug auf die Verschmelzung heidnischer Bräuche mit dem neuen Christentum genommen. Darin tauchten zahlreiche Gottheiten auf, die die Iren neben dem Erlöser aus Nazareth in mancher Situation noch anriefen.
Die Göttin Brigid war so eine. Ihr Name wurde als
Die Helle, Die Strahlende
oder auch
Die Streiterin
gedeutet und ging auf eine altkeltische Göttin namens Brigantia oder Brigindo zurück. Sie hatte mein Interesse auf sonderbare Weise erregt, da sie als Personifikation der Dichtkunst und Beschützerin der Poeten angesehen wurde. Eine vergleichbare Gottheit hatte ich im Christentum nicht gefunden. Schon gar nicht bei den Schwestern um mich herum, da keine von ihnen im Licht erstrahlen oder gar etwas Kreatives zu Papier bringen wollte. Sie waren stattdessen willfährige Angestellte, Verwaltungshilfen ihrer römischen Zentrale.
Kaum hatte sich das Geflecht keltischer Gottheiten in meiner Phantasie neu entsponnen, ging das Licht an. Die Schwestern Margarethe und Helene kamen mit schnellem Schritt und wehender Ordenstracht auf uns zu. Im Bett zu meiner Seite kullerten die verbliebenen Rosinen umher, und ich musste schnell meine geheimen Notizen vor der Kirchenmacht in Sicherheit bringen.
Zu spät, wie sich zeigte. Den geübten Augen der Schwestern entging nichts. Als Helene meine Aufzeichnungen las, wich alle Farbe aus ihrem Gesicht. Mein Bettnachbar schob aus Furcht vor der drohenden Strafe alle Schuld auf mich und verriet mein Versteck in der Gartenmauer, wodurch meine Karriere als Wissenschaftler der alten Riten und Bräuche beendet war.
Am folgenden Morgen wurde das ganze Ausmaß des Skandals offenbar. Die Äbtissin hatte den Kopf über meine Aufzeichnungen in beide Hände gestützt, als ich bei ihr anzutreten hatte. Sie befragte mich fassungslos nach dem Hintergrund dieser gleichsam besorgniserregenden als auch ketzerischen Studien. Ich sah keinen Grund mehr, mit meinem Wissen und meiner Überzeugung hinter dem Berg zu halten. Sie hörte sich meine Litanei gegen diese Einrichtung und das vorherrschende Gedankengut tapfer an.
Dann fällte sie ihr Urteil. Neben einer sofort zu vollziehenden Strafe in Höhe von dreißig Rutenschlägen erhielt ich Stubenarrest, den ich nur für zu verrichtende Arbeiten unterbrechen durfte. Unterricht, Bibliothekszugang und alle weiteren Vergünstigungen waren bis auf weiteres gestrichen. Einzig meine Gedanken über Augustinus hatten ein höheres Strafmaß verhindert.
Mir war natürlich klar, dass ich die Bibliothek nie wieder betreten dürfte. Diesen
Weitere Kostenlose Bücher