Das Mordkreuz
mal her, Fräulein.»
Claudia hielt ihn zurück. «Lass sie.»
«Hast du nicht gehört, was sie gesagt hat?»
«Ja, aber jetzt mach bitte nicht einen Elefanten daraus.»
«Was?»
«Setz dich und beruhige dich.»
Er folgte widerwillig der Aufforderung. «Hast du davon gewusst?»
«Nein. Aber es ist doch alles gutgegangen. Die Kinder sind jung und wollen ihre eigenen Erfahrungen machen. Wir waren nicht anders als sie.»
«O doch. Wir haben niemals Rauschgift genommen.»
Claudia schwieg. In ihrem Gesicht machte sich ein zartes Lächeln breit.
«Was ist?», fragte Heinlein.
«Kannst du dich noch erinnern, als ich in dieser Selbsterfahrungsgruppe war?»
«Ja, und?»
«Neben diesen vielen Dingen, die sie einem beibringen, um zu deinem Innersten vorzudringen, gehört auch … diese Erfahrung.»
«Ich versteh nicht.»
«Jetzt stell dich nicht dümmer, als du bist.»
Heinlein wagte nicht zu ahnen, was ihm seine Frau nahebringen wollte. «Sag bloß nicht …»
«Doch. Zauberpilze oder Magic Mushrooms werden sie genannt. Du tust eine Handvoll in eine Tasse mit Wasser und trinkst sie wie Suppe. Eine halbe Stunde später hebst du ab. Ich sag dir, was ich dann erlebt habe, war unbeschreiblich.»
Heinlein wusste nicht, wie ihm geschah. Wortlos stand er auf, nahm eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank und ging auf die Terrasse.
Das war nun zwei Stunden her. Inzwischen hatte sich Claudia ins Bett gelegt, und Vera war in ihr altes Häuschen gegangen. Nach der ersten Flasche hatte Heinlein eine zweite aufgemacht. Sie schmeckte ihm ebenso gut wie die vorangegangene. Wenn schon seine gesamte Familie drogenabhängig war, dann brauchte er sich nun auch nicht mehr zurückhalten.
Er hatte mittlerweile die Hälfte von Veras Büchern durchgeblättertund Erstaunliches über das Phänomen der Weißen Frau gelesen. Im Grunde genommen fußte alles auf Erzählungen und Berichten der Bevölkerung aus den letzten Jahrhunderten. Das tat der Spannung keinen Abbruch. Im Gegenteil. Eine Weiße Frau trat insbesondere dann in Erscheinung, wenn Todesfälle von Familienmitgliedern oder Nachbarn bevorstanden. Sie wurde angeblich in vielen Orten in Deutschland gesehen, darunter befanden sich Berlin, Ansbach, Bayreuth, Coburg und noch zahlreiche andere Städte. Die bekannteste Sage hatte ihren Ursprung auf der Plassenburg ob Kulmbach und war mit der Familie Hohenzollern verknüpft.
Darin hieß es aus dem Jahr 1351: Kunigunde von Leuchtenburg, Ehefrau Ottos von Orlamünde-Plassenburg, wollte nach dem Tod ihres Mannes den Nürnberger Burggrafen Albrecht den Schönen heiraten. Der verweigerte sich, da
vier Augen
im Weg seien, wie er sagte. Kunigunde glaubte, ihre Kinder seien damit gemeint, und erstach sie mit einer goldenen Nadel. Stattdessen hatte der Burggraf von seinen Eltern gesprochen. Die Kinder wurden daraufhin im Kloster Himmelkron begraben. Aus Reue wollte Kunigunde auf Knien von der Plassenburg bis nach Himmelkron rutschen. Sie schaffte es jedoch nicht und brach bei Trebgast tot zusammen. Selbst im Tod soll sie keine Ruhe gefunden haben und spukt seitdem als Geist umher. Sie kündigte immer Unheil und Tod im Hause Hohenzollern an.
Erscheinungen von Weißen Frauen setzten sich über die Jahrhunderte fort. Im Februar 1713 erschien dem ersten Preußenkönig Friedrich I. kurz vor seinem Ableben eine weiße Frauengestalt mit Leuchter und Altarkreuz. Und selbst Napoleon fürchtete sich vor ihr. Als er am 14. Mai 1812 auf seinem Feldzug nach Russland in Bayreuth abstieg, hatte er von Aschaffenburg aus einen Kurier mit folgender Instruktion losgeschickt: Der Kaiser wolle keinesfalls jene Gemächer bewohnen, in denen die Weiße Frau zu erscheinen pflege.
Richtig interessant wurde es für Heinlein, als er von Weißen Frauen außerhalb Deutschlands las. Er fand Aufzeichnungen über Kanada, Frankreich, England und vor allem aus dem keltischen Irland. Unwillkürlich stellte Heinlein eine Verbindung zu den Frankenheiligen Kilian, Kolonat und Totnan her, die im Jahr 686 nach Würzburg gekommen waren.
In Irland wurden die Weißen Frauen
Banshees
genannt – aus dem gälischen Bean Sidhe oder Bean Si. Sie erschienen ganz in Weiß gekleidet denjenigen Menschen, die bald sterben würden. Ihr Wehklagen und Weinen über den baldigen Tod soll weithin hörbar gewesen sein. Einer der Autoren war ein seriöser Wissenschaftler, der Stein und Bein geschworen hatte, die Weiße Frau gesehen und gehört zu haben. Tags darauf sei ein Mann aus der
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