Das Mordkreuz
Fehler würden die Schwestern nicht ein zweites Mal machen.
So gingen die Wochen dahin, und in mir wuchs die Überzeugung, dass ich schnellstens diese Einrichtung verlassen musste. Ich hatte Glück im Unglück. Während meine Heimgenossen zu einem Tagesausflug außer Haus waren, wurde ein Vertreter des Jugendamtes bei der Äbtissin vorstellig.
Ein Ehepaar hatte sich erfolgreich um die Betreuung eines Kindes beworben. Ich war alles andere als erste Wahl, und schon gar nicht in den Augen der Äbtissin. Ein anderes Kindhätte die Freiheit weit mehr verdient als ich. Einzig der Umstand, dass es sich bei den neuen Eltern um Atheisten handelte, brachte mich in die engere Auswahl.
Mit meinem Gedankengut passte ich wie die Faust aufs Auge in das Umfeld der Gottlosen. Und obendrein bekam ich noch einmal ein Schwesterlein geschenkt. Sie war ein richtiger kleiner Schatz.
Und dieses Mal würde ich auf sie aufpassen. Komme, was da wolle.
9
Die Lichtung lag friedlich im Mondlicht. Im Wald war es still, und nur der Ruf einer Eule verriet, dass nicht alle Tiere das Gehölz verlassen hatten.
Staatsanwalt Rüdiger Mangel bekam davon nichts mit. Er schlief tief und zufrieden in seinem Bett. Das Fenster hatte er mit einem Fliegengitter versehen, damit frische und kühlere Luft aus dem angrenzenden Wald zu ihm ins Zimmer strömen konnte. An seiner Seite ruhte nicht seine Frau – die hatte ihn mit den Kindern vor einem halben Jahr verlassen –, sondern ein Stoß Akten, den er in den vergangenen Stunden durchgearbeitet hatte. Am nächsten Morgen würde er Anklage gegen einen Mann erheben, der seine Schwiegermutter getötet, zerlegt und in der Kühltruhe verwahrt hatte. Der Fall hatte wegen seiner Grausamkeit für viel Aufsehen gesorgt. Er schien wie für ihn gemacht. Morgen würde er im schwarzen Talar und mit strenger Miene die Höchststrafe fordern. Mehr war leider nicht drin.
Vielleicht würde ihm der Sachverständige noch einen Strich durch die Rechnung machen. Dessen Gutachten attestierte dem Angeklagten eine tiefgreifende Persönlichkeitsstörung, die ihn zu dieser Wahnsinnstat veranlasst habe. Doch darauf würde er vorbereitet sein. Diese Quacksalber hatten lange genug seine und die Arbeit anderer Kollegen mit fadenscheinigen Erklärungen torpediert. Punkt für Punkt würde er nachweisen, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt der Tat durchaus zurechnungsfähig gewesen war und die alte Frau geplant und kaltblütig getötet hatte.
Was auch immer Mangel in dieser Nacht davon abgehalten hatte, die Glastür zur Veranda fest zu schließen, sondern nur am Rahmen anzulehnen, würde sein Geheimnis bleiben.
Ein Marder zwängte sich flink durch den Holzzaun, vorbei an den verwelkten Blumenbeeten, direkt auf den Gartentisch zu. Das Abendessen Mangels – eine Auswahl verschiedener ölgetränkter Antipasti – interessierte ihn wenig. Stattdessen hatte er die Witterung einer anderen, viel verlockenderen Beute aufgenommen. Hier roch es verführerisch nach etwas Süßem. Ein Früchtekompott hatte Mangel als Dessert gedient und würde nun dem Marder ein willkommenes Nachtmahl sein. Hastig schleckte er die Reste aus dem Plastikbecher, bis der zu Boden fiel und der kleine Nager ihm folgte. In Schlangenlinien schob er den Becher über den Stein zur Glastür. Ein sanfter Druck genügte, und sie sprang auf.
Mangel merkte davon nichts, auch nicht, als der Marder, durch ein Geräusch aufgeschreckt, Augen und Ohren im Dunkel des Raums ausrichtete, um der Quelle auf die Spur zu kommen. Der Kühlschrank surrte. Er kannte dieses Geräusch und wusste, wo immer es herkam, dort würde es mehr geben. Der kleine Räuber hoppelte am Bett vorbei in den Flur und dann in die Küche. Auf die Anrichte zu kommen war gar nicht so leicht. Ein ums andere Mal konnten seine Krallen keinen Halt finden. Erst der Umweg über einen Stuhl, den Herd und die Spüle ließen ihm zum Küchenfenster gelangen, wo das Geschirr der letzten Mahlzeiten noch auf den Abwasch wartete. Es roch köstlich hier. Kartoffeln, Karottengemüse, Soße und vor allem Fleisch. Das halbe Schnitzel sollte den Morgen nicht sehen.
Hastig begann der Marder an dem Fleischstück zu kauen und hätte es auch alsbald vertilgt, wenn ihn nicht ein greller Lichtschein von der Veranda her erschreckt hätte. Er erhellte den Garten und die Küche. Aus dem Lichtschein trat jemand heraus und verschwand im Haus. Einen Moment langherrschte Stille. Der Marder stellte seine Ohren und die Nase in die plötzlich
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