Das Mordkreuz
Nachbarschaft gestorben. Selbiges wiederholte sich mehrmals an anderen Orten über Jahre hinweg. Der Glaube an eine Weiße Frau, eine Banshee, sei im tiefgläubigen, katholischen Irland tief verwurzelt.
Heinlein legte das Buch zur Seite und genehmigte sich noch einen Schluck aus dem Weinglas. Was wäre, so grübelte er, wenn sein Sohn Thomas nicht drogenbedingt halluziniert hatte? Was wäre, wenn tatsächlich eine Weiße Frau im Würzburger Umland umherginge?
8
Mir ging es gut. Ich konnte nicht klagen. Die Schwestern des Sankt-Theresa-Kinderheims brachten mir alles bei, was ich im Leben brauchen würde. Das Wissen über die Welt und ihre Lehren, die Kontemplation im Geiste des Herrn und die Disziplin, Maß zu halten, und zwar in allen Dingen, die einen werdenden Menschen im Prozess der Reife beeinträchtigten. Wer sich darauf einließ, hatte von den Schwestern nichts zu befürchten.
Der Tag war klar strukturiert. Fünf Uhr morgens Wecken. Danach Körperreinigung. Fünf Uhr dreißig Morgengebet. Sechs Uhr Frühstück. Sechs Uhr dreißig Küchenarbeit. Sieben bis zwölf Uhr Unterricht. Mittagessen mit anschließender Danksagung und Gebet. Ab dreizehn Uhr Arbeit auf dem angrenzenden Klostergelände. Sechzehn Uhr Körperreinigung und Vorbereiten des Abendessens um siebzehn Uhr. Danach Schulaufgaben und Abendandacht. Zwanzig Uhr Nachtruhe.
Wer sich bei diesen Tätigkeiten besonders hervortat, durfte mit Vergünstigungen rechnen. Ich für meinen Teil wählte den Zugang zur Bibliothek. Hier war alles, wonach ich strebte. Alte Schriften, Abgeschiedenheit und Raum für meine Studien. Sie bezogen sich im ersten Schritt auf die frühe Christianisierung des Abendlandes, um keinen Verdacht zu erregen. Der alte Kirchenvater Augustinus hatte es mir besonders angetan. Sein Postulat
Crede, ut intelligas
– Glaube, damit du erkennst – entsprach vollends meinem unstillbaren Verlangen, zu verstehen, was mit mir und der Welt vorging. Seine
Confessiones
lenkten mein Reifen in die gewünschtenBahnen, sodass ich bald zu verstehen glaubte, was er mit der Zweiteilung der Wirklichkeit zwischen einer höheren Welt des Seins, die nur dem Denken zugänglich ist, und der niederen Welt des Werdens, die nur den Sinnen zugänglich ist, meinte.
Im zweiten Schritt arbeitete ich mich zur iro-schottischen Mönchskirche des frühen Mittelalters vor, die eigentlich eine rein irische und nicht schottische Angelegenheit nach unserem heutigen Verständnis ist. Auch hier fand ich viele Anhaltspunkte, die mir auf meiner Suche behilflich waren.
Schließlich gelangte ich zum eigentlichen Ziel meiner Forschungen – den keltischen Heidenreligionen, wie sie dummerweise im üblichen Sprachgebrauch abgetan werden. Ihre Verbundenheit mit der reichhaltigen Natur, die nicht nur einen Gott, sondern deren viele kennt, entsprach meinem Verständnis vom Aufbau der geistigen Welt. In zahlreichen Missionierungsschriften verstreut, fand ich Hinweise auf diese alte und für mich so faszinierende Kultur. Sosehr meine Begeisterung für dieses Wissen wuchs, desto unvorsichtiger wurde ich bei der Verschleierung meiner wahren Absichten in der Bibliothek wie auch in der knappen Privatsphäre eines Schlafraums, den ich mit dreißig Heiminsassen zu teilen hatte.
Schwester Helene hatte ein kritisches Auge auf mich geworfen. Meine Angepasstheit und die kritiklose Hinnahme jeglicher Strafe erweckten in ihr den Verdacht, dass ich ein Spiel jenseits ihres Regiments führte. Sie ließ sich die Bücher zeigen, die ich aus den Regalen zog und studierte. Sie stand neben mir, wenn ich das Morgen-, Mittag- und Abendgebet sprach. Sie untersuchte mein Bett auf versteckte Hinweise meines Treibens. Gegen alle ihre Nachstellungen konnte ich mich erfolgreich behaupten, nur nicht gegen die Hinterhältigkeit meines Bettnachbarn. Wenn das Licht erloschen und der letzte Kontrollgang beendet war, begann mein eigentliches,mein freies Leben als Individuum in dieser Zwangsgemeinschaft. Ich studierte die Notizen, die ich mir im Geheimen beim Studium der Schriften gemacht hatte, und entwickelte daraus meine eigene Sicht der Dinge. Sie korrespondierte in keinster Weise mit dem Erlöserglauben in diesen Hallen. Ich votierte für das Erleben der Kräfte der Natur, die sich in Gestalt von Göttinnen und Göttern anrufen ließen und auch dem einzelnen Gläubigen zugänglich waren, der sich nicht länger von einer zentral gelenkten Kirche bevormunden lassen wollte. Die Abwendung von einer Priesterreligion
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