Das Moskau-Komplott
versicherte den Amerikanern, dass die Verschwörung vollständig aufgedeckt sei und dass man gefahrlos fliegen könne. Eine Einschätzung, die von der Öffentlichkeit offenbar nicht geteilt wurde. Innerhalb von Stunden nach der Verlautbarung mussten Hunderte von Flügen verschoben oder annulliert werden, weil eine beispiellose Zahl von Passagieren storniert hatte. Airline-Analysten sagten voraus, dass die Nachricht der ohnehin bereits angeschlagenen Branche schweren finanziellen Schaden zufügen werde.
Am Abend blickte die Welt nach Moskau, wo sich der Kreml in Sowjet-Manier beharrlich in Schweigen hüllte, obwohl immer mehr Fakten ans Licht kamen. Kurz nach 23 Uhr gab ein Sprecher des russischen Präsidenten schließlich eine kurze Stellungnahme ab, in der er kategorisch jeden Zusammenhang zwischen der terroristischen Verschwörung und den legalen Waffenlieferungen Russlands an seine Abnehmer im Nahen und Mittleren Osten bestritt. Sollten die Raketen tatsächlich aus russischer Quelle stammen, so der Sprecher, handle es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um einen kriminellen Akt, den die russischen Behörden mit größtmöglicher Gründlichkeit untersuchen würden. Wenige Stunden später wurde der Wahrheitsgehalt der russischen Erklärung jedoch durch einen aufsehenerregenden, in London erschienenen Zeitungsartikel infrage gestellt. Geschrieben hatte ihn eine Person, die den Männern im Kreml wohlbekannt war: Olga Suchowa, die ehemalige Chefredakteurin der
Moskowskij Gaseta.
Dieser Umstand gehörte zu den faszinierendsten der gesamten Affäre. Obwohl Olga Suchowa fast den ganzen Sommer über in ihrer Moskauer Wohnung unter Arrest gestanden hatte, war ihr das Kunststück gelungen, unbemerkt aus Russland zu entkommen, angeblich mithilfe eines FSB-Obersts namens Grigorij Bulganow. Nachdem die beiden mit dem Auto über die ukrainische Grenze geflohen waren, hatte man sie in ein sicheres Haus in London gebracht, wo sie eng mit amerikanischen und britischen Geheimdienstleuten zusammenarbeiteten, die an der Suche nach den sa-18-Raketen beteiligt waren. Als Gegenleistung für ihre Kooperation hatte man Olga eine »zeitlich befristete Exklusivität« hinsichtlich gewisser Details der Geschichte zugesichert - und diese Details veröffentlichte sie nun in ihrem aufsehenerregenden Artikel im Londoner
Telegraph.
Dem Artikel zufolge, der auf der Titelseite erschien, waren die von Europäern und Amerikanern sichergestellten Raketen ursprünglich von dem russischen Geschäftsmann und Waffenhändler Iwan Charkow an die Demokratische Republik Ostafrika verkauft worden. Charkow, so schrieb sie, habe den Handel in voller Kenntnis der Tatsache abgeschlossen, dass die Waffen an eine Al-Qaida-Filiale am Horn von Afrika weitergeleitet werden sollten. Außerdem brachte sie Charkow und seinen mittlerweile verstorbenen Sicherheitschef Arkadij Medwedew mit der Ermordung der beiden Gaseta-Journalisten Aleksandr Lubin und Boris Ostrowskij in Verbindung.
In den folgenden Tagen war Olga Suchowa im europäischen und amerikanischen Fernsehen ein Dauergast. Gleiches galt auch für den Mann, dem das Verdienst zugerechnet wurde, ihr zur Flucht verholfen zu haben: Oberst Grigorij Bulganow vom fsb. Er schilderte die in seinem alten Dienst grassierende Korruption und warnte vor den neuen Herren im Kreml, die, wie er sagte, nichts anderes als kgb-Gangster seien und bei jeder Gelegenheit die Konfrontation mit dem Westen suchten.
Am Ende der Woche hatten beide, Olga Suchowa und er, lukrative Buchverträge unterzeichnet. Was allerdings den Mann im Zentrum des Sturms anbetraf, so war er nirgends aufzufinden. Iwan Borisowitsch Charkow, Baulöwe, Risikokapitalgeber und internationaler Waffenhändler, hatte sich anscheinend in Luft aufgelöst.
Seine Vermögenswerte wurden umgehend beschlagnahmt, seine Bankkonten eingefroren. Eine Zeit lang waren seine Paläste Tag und Nacht von Reportern und Kameraleuten belagert. Als schließlich klar wurde, dass Iwan niemals mehr zurückkommen würde, zogen die Reporter auf der Suche nach anderen Opfern weiter.
Die Liste der Länder, in denen Iwan plötzlich als Verdächtiger mit Haftbefehl oder als Zeuge gesucht wurde, war lang und auch ein wenig aberwitzig. Selbst die zynischsten Beobachter mussten zugeben, dass die Situation nicht einer gewissen Ironie entbehrte. Über Jahre hinweg hatte Iwan rücksichtslos die blutigen Bürgerkriege und Konflikte in der Dritten Welt angeheizt, und der Westen
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