Das Moskau-Komplott
eindeutig zwei Personen - der Restaurator und die Frau, die sie unter dem Namen Francesca kannten -, und die Frau fuhr. Ein starkes Indiz dafür, sagte sie zu Carlos, dass der Restaurator tatsächlich einen Unfall gehabt hatte.
Die letzte Angehörige des Personals, die das Paar an diesem Abend zu Gesicht bekam, war Margherita. Sie sah die beiden von ihrem Posten über der Kapelle aus über den Hof gehen. Wie alle Hauswirtschafterinnen war Margherita eine geborene Beobachterin - und wie jede gute Beobachterin nahm sie auch Kleinigkeiten wahr. Sie fand es, gelinde gesagt, merkwürdig, dass die Frau vorausging. Außerdem glaubte sie, eine leichte Veränderung in den Bewegungen des Restaurators zu bemerken. Sein Schritt hatte etwas Verhaltenes. Sie sah ihn ein zweites Mal, als er oben am Fenster erschien und über den Hof in ihre Richtung blickte. Diesmal gab es kein soldatisches Nicken, ja, er ließ nicht einmal erkennen, ob er sie überhaupt bemerkt hatte. Er starrte einfach nur in die Dunkelheit, als suche er nach einem Feind, von dessen Existenz er überzeugt war, den er aber nicht sehen konnte.
Die Fensterläden schlossen sich mit einem dumpfen Knall, und der Restaurator entschwand ihrem Blick. Margherita stand danach noch lange am Fenster, wie erstarrt und ganz im Bann des Bildes, das sich ihr soeben geboten hatte. Ein Mann an einem mondbeschienenen Fenster mit einem dicken Verband über dem rechten Auge.
Leider bewahrheitete sich Graf Gasparris Vorhersage hinsichtlich der Stimmung des Restaurators. Anders als im Sommer, als er gleichbleibend reserviert gewesen war, schwankten seine Launen nun zwischen eisigem Schweigen und beängstigenden Temperamentsausbrüchen. Francesca drückte sehr wohl ihr Bedauern aus, lieferte aber nur wenige Hinweise darauf, wie er zu der Verletzung gekommen war, und erklärte lediglich, dass ihm bei einer Dienstreise ins Ausland »ein Missgeschick« passiert sei. Also blieb es den Angestellten überlassen, darüber zu spekulieren, was wirklich geschehen war. Ihre Theorien waren teils banal und teils absurd. In einem Funkt waren sich jedoch alle einig: Die Verletzung hatte das Nervenkostüm des Restaurators bedenklich angegriffen, wie Anna eines Morgens zu spüren bekam, als sie sich ihm von hinten näherte, während er mühsam Zeitung las. Er fuhr urplötzlich herum und jagte ihr einen solchen Schrecken ein, dass sie sich schwor, ihm nie wieder zu nahe zu kommen. Margherita machte es sich zur Gewohnheit, bei der Arbeit zu singen, was ihn offenbar nur noch mehr verstimmte.
Anfangs wagte er sich nicht über die etruskischen Mauern des Gartens hinaus. Er verbrachte ganze Nachmittage unter der schattigen Pergola, trank Orvieto und las, bis sein Auge ermüdete. Manchmal, wenn es warm war, ging er zum Pool hinunter und watete vorsichtig in dem flacheren Teil, wobei er darauf achtete, dass sein Verband nicht nass wurde. An anderen Tagen lag er mit dem Rücken auf der Chaiselongue und warf einen Tennisball in die Luft, und das stundenlang, als teste er sein Sehvermögen und seine Reaktionsfähigkeit. Jedes Mal, wenn er in die Villa zurückging, blieb er im Salon stehen und starrte in das leere Atelier.
Margherita fiel auf, dass er nie seinen üblichen Platz direkt vor den Staffeleien einnahm, sondern stets mehrere Schritte Abstand hielt. »Als versuche er, sich vorzustellen, wie er dort arbeitet«, sagte sie zu Anna. »Der arme Mann weiß nicht, ob er jemals wieder an einem Bild arbeiten kann.«
Bald fühlte er sich kräftig genug, seine Spaziergänge wieder aufzunehmen. Anfangs waren sie weder lang, noch wurden sie in besonders hohem Tempo ausgeführt. Zum Schutz seiner Augen trug er eine geschlossene Sonnenbrille und einen Baumwollhut, den er bis auf den Nasenrücken hinunterzog. An manchen Tagen begleitete ihn die Frau, gewöhnlich aber ging er allein, nur in Gesellschaft der Hunde. Isabella grüßte ihn, wenn er an den Ställen vorbeikam, jedes Mal freundlich, obwohl sie meist nur ein stummes Nicken als Antwort bekam. Seine Stimmung besserte sich jedoch mit zunehmender Übung, und einmal blieb er sogar stehen und plauderte ein Weilchen mit ihr über Pferde. Isabella erbot sich, ihm Reitstunden zu geben, wenn sein Auge wieder gesund sei, doch statt zu antworten, hob er den Blick zum Himmel und beobachtete ein Flugzeug, das im Anflug auf den Flughafen Fiumicino war. »Haben Sie Angst?«, fragte sie ihn. Ja, gab er zu, während die Maschine hinter einem gelbbraunen Hügel verschwand.
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