Das Moskau-Komplott
Er habe große Angst.
Jeden Tag ging er ein Stück weiter, und Mitte Oktober war er wieder so bei Kräften, dass er jeden Morgen bis zum Tor und wieder zurück wanderte. Er wagte sich sogar wieder in den Wald. Während eines solchen Ausflugs, am ersten frostigen Herbsttag, hallte in der Villa dei Fiori ein einzelner Schuss aus einer kleinkalibrigen Waffe wider. Augenblicke später trat der Restaurator, den Pullover locker um den Hals gebunden, unter den Bäumen hervor, und die Hunde heulten wie im Blutrausch. Er teilte Carlos mit, dass er soeben von einem Wildschwein angegriffen worden sei und dass das Schwein die Begegnung bedauerlicherweise nicht überlebt habe. Als Carlos ihn von oben bis unten ansah und keine Waffe entdecken konnte, die seine Worte bestätigte, schien der Restaurator zu schmunzeln. Dann drehte er sich um und ging den Schotterweg hinunter in Richtung Villa. Carlos fand das Tier ein paar Minuten später. Zwischen seinen Augen war ein blutloses Loch. Klein und sauber. Fast als wäre es mit dem Pinsel gemalt worden.
Am nächsten Morgen wurden die Bewohner der Villa dei Fiori zusammen mit dem Rest Europas von der schockierenden Nachricht überrascht, dass nur mit knapper Not eine Katastrophe unbeschreiblichen Ausmaßes verhindert worden sei. Die Sache wurde zuerst in London bekannt, als die BBC berichtete, dass Scotland Yard im Londoner Osten und in der Umgebung der Flughäfen Heathrow und Gatwick »umfassende Anti-Terror-Razzien« durchführe. Am späten Vormittag trat in der Downing Street ein todernster britischer Premierminister vor die Kameras und setzte die Nation davon in Kenntnis, dass die Sicherheitsdienste eine groß angelegte terroristische Verschwörung vereitelt hätten, deren Ziel es gewesen sei, im britischen Luftraum gleichzeitig mehrere Passagierflugzeuge zu zerstören. Es war nicht die erste Verschwörung dieser Art, die in Großbritannien aufgedeckt worden war. Was diese jedoch von den anderen unterschied, waren die Waffen, die dabei zum Einsatz kommen sollten: schultergestützte Luftabwehrraketen vom Typ SA-18. Die britische Polizei hatte bei ihren Razzien am frühen Morgen zwölf dieser hochmodernen Lenkwaffen gefunden und suchte nach Aussage des Premierministers fieberhaft nach weiteren. Auf die Frage, woher die Terroristen die Raketen bezogen hätten, gab er keine Auskunft, erinnerte die Journalisten aber daran, wo die Waffen hergestellt wurden: in Russland. In einer beunruhigenden Schlussbemerkung wies er noch daraufhin, dass es sich um eine Verschwörung »globalen Ausmaßes« handle, und empfahl den Journalisten, sich auf einen langen Tag einzurichten.
Zehn Minuten später trat im Elysee-Palast in Paris der französische Staatspräsident vor die Kameras und gab bekannt, dass in Pariser Vororten und im Süden Frankreichs am Morgen eine ähnliche Serie von Polizeirazzien durchgeführt worden war. Bislang seien zwanzig Raketen gefunden worden, zehn in einer Wohnung unweit des Flughafens Charles de Gaulle und zehn weitere auf einem Fischerboot im belebten alten Hafen von Marseille. Im Unterschied zum britischen Premierminister, der sich zur Herkunft der Waffen nur vorsichtig geäußert hatte, erklärte der französische Staatspräsident, er habe keinen Zweifel daran, dass die Waffen, direkt oder indirekt, aus russischer Quelle an die Terroristen geliefert worden seien. Außerdem behauptete er, die französischen Sicherheits- und Nachrichtendienste hätten »bei der Vereitelung der Verschwörung eine maßgebliche Rolle gespielt«.
Ähnliche Szenen spielten sich in rascher Folge in Madrid, Rom, Athen, Zürich, Kopenhagen und schließlich auch jenseits des Atlantiks in Washington ab. Flankiert von seinen wichtigsten Sicherheitsberatern, teilte der Präsident dem amerikanischen Volk mit, dass an Bord einer Motorjacht, die von den Bahamas nach Miami unterwegs gewesen war, acht SA-18-Raketen entdeckt worden seien sowie weitere sechs im Kofferraum eines Wagens, der versucht habe, von Kanada aus in die Vereinigten Staaten zu gelangen. Vier mutmaßliche Terroristen seien festgenommen worden und würden zur Stunde verhört. Nach den derzeitigen Erkenntnissen amerikanischer wie europäischer Ermittler hätten die geplanten Anschläge an den Weihnachtstagen erfolgen und sich vorrangig gegen amerikanische und israelische Flugzeuge richten sollen, wobei die Terroristen auf eine möglichst große Zahl von Opfern unter »den Kreuzfahrern und den Juden« gehofft hätten. Der Präsident
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