Das Moskau-Spiel
man es anders betrachtet, dann ist es nicht absurd. Dann erscheint es sogar logisch. Wenn Stabilität zum Fetisch wird.
»Ich verstehe es auch nicht«, sagte Henri. »Alte Männer haben einen alten Mann gewählt, weil sie den jungen nicht trauen. Vielleicht lässt es sich so erklären.«
»Vielleicht. Aber eigentlich haben die getan, was man den Lemmingen vorwirft. Zu Unrecht, übrigens. Lemminge denken gar nicht daran, Selbstmord zu begehen.«
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»Es ist eine Tragödie, er musste zwei Wochen gegen den Krankheitsschub kämpfen, habe ich gehört«, sagte Major Eblow und ließ den weißen Rauch seiner Zigarre eine große Wolke bilden, die nun ihren Flug begann. Er trank einen kräftigen Schluck Weinbrand, setzte sein Glas ab und lächelte versonnen.
»Aber das Leben geht weiter«, sagte Rachmanow leise und lächelte zurück.
»Natürlich«, sagte Eblow, aber so richtig überzeugt klang das nicht.
»Werden sie ihn obduzieren?«
Eblow schüttelte den Kopf. »Obduziert werden Leichen nur dann, wenn der Verdacht von Fremdeinwirkung vorliegt. Sowjetische Generalsekretäre werden nicht ermordet.«
»Es wäre eine Schande für das Land.«
»Richtig. In den USA ist das ja fast üblich, Wildwest, Land des Verbrechens. Aber sind wir in den USA ? Eine schreckliche Vorstellung.« Er grinste. »Bei uns lieben alle die Führer unserer ruhmreichen Partei.«
»Aber eine Untersuchung und einen Totenschein muss es doch geben. Das ist Gesetz.«
»Genau«, paffte Eblow, »unsere Gesetze sind uns heilig. Professor Smirnow, der Leiter des Regierungskrankenhauses, persönlich wird die Untersuchung vornehmen und den Totenschein ausstellen.«
»Kennst du den?«
»Ein sehr guter Arzt«, nickte Eblow, »vielleicht unser bester. Ich habe das Privileg, von ihm betreut zu werden. Du weißt, mein Blutdruck treibt manchmal seltsame Dinge …«
Rachmanow verknotete seine Finger. »Der eine hat es hinter sich. Wir nicht.« In seinen Augen leuchtete kurz die Angst auf. »Wenn deine Genossen auch nur ein Molekül wittern, werden sie uns auf die Streckbank legen«, flüsterte er, als hätte er Angst vor den eigenen Worten. »Bist du sicher, dass du alles im Griff hast?«
Eblow schwieg lange und rührte sich nicht. Dann zuckte er mit den Achseln, stand auf und ging, die Zigarre zwischen den Lippen, zum Fenster. Er schaute hinunter zum Dserschinskiplatz, der längst von Straßenlaternen erhellt wurde. Es war weniger Verkehr als sonst, als verneige sich das Land vor dem Toten, der gewiss kein großer Mann gewesen war, aber der bisher letzte war in der Reihe der sowjetischen Führer, an deren Anfang Lenin stand und mit ihm Dserschinski, der unbestechliche Wächter über die Macht der Partei. Bis auf Chruschtschow waren sie alle im Amt gestorben,Tschernenko auch. Aber er war der erste Generalsekretär, der ermordet worden war.
»Und was ist mit den Amerikanern?«
Eblow betrachtete sein Spiegelbild im Fenster. »Damit haben wir nichts zu tun. Martenthaler hat kassiert und leider die Gegenleistung nicht erbracht. Es herrschen schon seltsame Gepflogenheiten zwischen den westlichen Geheimdiensten. Ein echter Sittenverfall. Wo hört die Moral auf bei denen?« Er zwirbelte seinen Bart und beantwortete sich die Frage selbst: »Bei zehn Millionen Dollar allemal.« Ein wenig Bedauern schwang mit.
Rachmanow betrachtete die Silhouette des Majors. Dann dachte er an Henri. »Das ist ein armes Schwein. Eigentlich fand ich ihn anständig. Ein bisschen … spröde, sehr auf Haltung bedacht, gefühlskalt.«
»Ein Soldat«, sagte Eblow leise. »Er wird es verstehen. Ohne Opfer geht es nicht im Krieg. Auch nicht in dem, den wir führen.« Er seufzte kaum hörbar.
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Theo verließ Suchanows Büro, überlegte einen Augenblick, ob er auch Protossows Dienstzimmer durchsuchen sollte, aber dann entschied er, dass er das Glück genug herausgefordert hatte, zumal er den Großteil davon noch brauchen würde. Er stieg die Treppen hinunter ins Erdgeschoss und suchte dann Tür für Tür den Flur ab. Endlich fand er einen nicht abgeschlossenen fensterlosen Raum, eine Art Besenkammer. Er zog den weißen Kittel aus Suchanows Büro an, lobte sich, dass er daran gedacht hatte, ihn mitzunehmen, und schaute sich genau um. Er fand einen Lichtschalter und schloss die Tür. Wenn er Pech hatte, kamen die Putzfrauen morgens und nicht am Abend. Wenn die ihn erwischten, konnte er nur versuchen, sie zu überrumpeln. Ein russischer Fluch, er legte sich einen zurecht, und
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