Das Moskau-Spiel
Aktendeckeln eingetragen war: W. I. Lenin, J. W. Stalin, M. A. Suslow, N. S. Chruschtschow, A. N. Kossygin, L. I. Breschnew, J. W. Andropow, K. U. Tschernenko, M. I. Kalinin und ein paar andere. Er sortierte die Generalsekretäre aus und blätterte in deren Akten. Offenbar befasste sich Suchanow mit den Todesursachen, er hatte an die betreffenden Dokumente kleine Zettel geheftet, ohne sie aber zu beschriften.
Vielleicht hatte der Rechtsmediziner den Auftrag dazu von der russischen Regierung, deren Mitglieder gesünder leben sollten. Verrückte Idee, aber in autoritären Systemen gab es viel Raum für Verrücktheiten. Doch wahrscheinlich forschte Suchanow im eigenen Auftrag, womöglich für eine sensationelle Publikation.
Bei Lenin war ein kurzes ärztliches handschriftliches Schreiben markiert, das Durchblutungsstörungen und einen Schlaganfall als Todesursache vermerkte. Erwähnt wurde auch das Attentat vom August 1918, das den Gesundheitszustand des Genossen Lenin nachhaltig verschlechtert habe. Eine ähnliche Diagnose, abgesehen vom Mordanschlag, bei Stalin, wo ergänzend auf Alkoholmissbrauch und recht allgemein auf »ungesunde Essgewohnheiten« verwiesen wurde. Todesursache: Schlaganfall. Bei Chruschtschow war es »Herzversagen«, bei Breschnew kam einiges zusammen: Herzinfarkte, Arteriosklerose, Schlaganfälle, auch hier ein Verweis auf Alkohol und Ernährungsgewohnheiten. Bei Andropow wurde es ausführlich, da war in einem Formular – vorgedruckt und handschriftlich ausgefüllt – die Rede von mikrovaskulären myokardialen Infarkten, Nebennierenstörung, Bluthochdruck, Arthritis, chronischer Kolitis. Gestorben sei er an Nierenversagen, kombiniert mit den Wirkungen der anderen Erkrankungen. Ein handschriftliches Blatt war angeheftet.
Wir sind flüchtig auf dieser Welt, unter dem Mond.
Das Leben ist ein Moment. Das Nichtsein ewig.
Die Erde dreht sich im Universum,
Menschen leben und verschwinden.
Theo las noch einmal die unbeholfenen Zeilen. Wohl ein Gedicht des Generalsekretärs am Tropf. Wie kam es in diese Akte?
Er öffnete die Akte mit der Aufschrift Tschernenko. Im Tod sah er noch fahler und wabbliger aus als im Le ben. Er fand ein Formular, in zwei ineinanderliegende Doppelblätter gefaltet, mit handschriftlichen Eintragun gen zum Gesundheitszustand, der Generalsekretär sei lungenkrank, die Krankheit aber nehme einen milden Verlauf. Er blätterte um und stieß auf einen Vermerk: Seite entnommen. Darunter ein Stempel: Komitee für Staatssicherheit Zweite Hauptverwaltung, Unterschrift unleserlich. Auf der nächsten Seite war vermerkt, dass die Hinterlassenschaft des Genossen Tschernenko aus dem Krankenhaus der Familie übergeben worden sei, die Empfangsbestätigung war ebenfalls dokumentiert. Auf den restlichen Seiten waren die Medikamente und Therapien detailliert geschildert, als ob die Ärzte Kritik vorwegnehmen wollten.
Es fehlte die Angabe der Todesursache. Sofort fing Theos Hirn an zu arbeiten. Er blätterte zurück auf die erste Seite des Doppelblatts. Es folgte der KGB – Eintrag, dann die Seite 5 des Formulars. Er schaltete die Schreibtischlampe ein und hielt das Formular darunter. Dann strich er sanft mit dem Zeigefinger über die fünfte Seite. Tatsächlich, es waren Abdrücke darauf. Und sie stammten wahrscheinlich von der Beschriftung der darüberliegenden Seite. Mit einer gewissen Befriedigung bemerkte Theo, dass ihn sogar unter extremem Druck der Instinkt des Spions nicht verließ.
Er saß an Suchanows Schreibtisch, Tschernenkos Akte vor sich, seine Finger schlugen einen leisen Rhythmus auf die Tischplatte. Er pfiff lautlos. Zwar habe ich über Scheffer nichts gefunden. Dafür aber etwas anderes. Was immer es ist.
Er kramte in den Haufen auf dem Boden und fand einen Bleistift. Dann schlug er die Akte wieder auf und begann vorsichtig, mit schräg angesetztem Stift die fünfte Seite zu schraffieren. Was Besseres hatte er gerade nicht zu tun.
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In dieser Nacht waren die Gänge beleuchtet wie immer, aber im Trakt im zweiten Stockwerk gab es nur einen Patienten. Professor Smirnow, gekleidet in einen weißen Arztkittel, öffnete die Milchglastür, die in den abgeschirmten Bereich führte, der dösende KGB – Offizier winkte ihn mit einem Nicken durch. Man kannte sich seit Monaten. Angesichts des Wachpersonals und der Kontrollen an den Kremleingängen und den Pforten des besten Krankenhauses der Sowjetunion rechnete niemand damit, dass es einem Feind gelingen könnte, hier
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