Das Moskau-Spiel
sein, als Zweiter sterben zu wollen?
Theo fühlte sich mies. Bestimmt würde ein Wodka helfen. Oder Trautmann? Trautmann! Theo griff nach dem Hörer und wählte Trautmanns Hausnummer.
»Ja?« Eine heisere Stimme.
»Martenthaler. Ich brauche einen Kalten Krieger für ein paar Auskünfte.«
»Es ist immer gut, wenn die Jugend die Alten um Rat fragt.« Als würde er jedes Wort herauspressen müssen. Es war schon anstrengend, dem Mann zuzuhören. Wie anstrengend musste es für ihn sein, zu sprechen, wenn seine Kehle jedes einzelne Wort erarbeiten musste?
»Kann ich gleich mal kommen?«
»Dann unterbrichst du zwar meine Vorbereitungen für den letzten Kreuzzug gegen die Ungläubigen, aber bitte …«
Theo fuhr im Aufzug in den vierten Stock, klopfte und trat ein. Das Erste, was er merkte, war der Gestank einer Zigarette. Offenbar hatte Trautmann am Fenster geraucht. Jetzt saß er hinter seinem Schreibtisch, der völlig übersät war mit Papier- und Aktenstapeln. Das Jackett hing über der Stuhllehne, der Knoten des verkleckerten Schlipses war gelockert, die Ärmel aufgekrempelt, am Arm eine runde Stahluhr mit Lederarmband. Im Gesicht eine Kartoffelnase, die bleichblonden Haare schlecht oder gar nicht frisiert und ausgedünnt.
Theo vermutete, dass Trautmann nicht nur keinen besonderen Wert auf Ordnung legte, sondern auch seinen Besuchern, vor allem wenn sie im Dienstgrad über ihm standen, gern die Illusion fleißiger Arbeit verschaffte. Dabei wusste er, dass niemand ihn mehr in einen Einsatz schicken würde. Trautmann war längst verbrannt. Er saß die letzten paar Jahre bis zur Pension ab und erzählte gerne Geschichten aus der Zeit, als Geheimdienstarbeit eine glasklare Sache gewesen war, bei der man sich zwar gegenseitig in die Eier trat, aber doch den Respekt vor dem Feind nicht verlor.
»Setz dich, Kollege!« Seine Hand wies auf den Stuhl vor dem Schreibtisch.
Der Typ duzte so ziemlich jeden außer dem Präsidenten. Theo zögerte, dann nahm er den Papierstapel vom Stuhl, fand auf dem Schreibtisch keinen Platz dafür und legte ihn schließlich auf den Boden. Er setzte sich und fragte: »Wenn einer Zeitungsartikel und Papiere aufhebt, in denen überall die letzten drei Generalsekretäre der KP d SU aufgeführt sind, dann tut er es gewiss nicht, um sich deren Namen einzuprägen.«
Trautmann blinzelte, dann presste er seine Gegenfrage heraus: »Von wann ist das Zeug?«
»Anfang, Mitte der Achtzigerjahre. Vermutlich.«
»Geht’s um Scheffer?«
Natürlich, der rätselhafte Tod eines Mitarbeiters sprach sich herum, da half keine Geheimhaltung. Theo nickte.
»Scheiß Geschichte«, sagte Trautmann. »Und was hast du damit zu tun? Ach, ich vergaß. Selbstverständlich habe ich die Frage nicht gestellt.« Er fuhr mit der Hand über einen Papierstapel, als wollte er die Frage wegwischen. Staub stieg auf.
Theo überlegte, was er fragen sollte. Irgendwie verwirrte ihn dieses Relikt aus der Steinzeit. Warum, verdammt, hast du dir nicht Fragen überlegt? Warum immer so eilig? Scheffer wird nicht wieder lebendig. »Wiewar das damals in der Sowjetunion?« Schon während er die Frage stellte, fand er sie strohdumm.
Trautmann grinste. »Eine große Zeit!«
»Fand Scheffer das auch?«
»Das fanden alle.«
»Waren wir denn erfolgreich?«
Trautmann wiegte seinen Kopf. »Mal mehr, mal weniger.«
»Und das KGB war ein harter Gegner.«
»Der härteste, den man sich vorstellen kann. Die Russkis waren echte Ferkel.« Er lachte.
»Waren Sie mit Scheffer in Moskau?«
»Mit ist zu viel gesagt, unsere Einsatzzeiten haben sich überschnitten, aber wir hatten nicht viel miteinander zu tun. Der hat da sein eigenes Süppchen gekocht. Man hat sich hier und da mal gesehen, aber das war es dann auch.«
»Wie war die … das Klima in Moskau?«
»Beschissen. Nachrüstungsbeschluss, Hysterie, Eiszeit. Das ist die Kurzfassung.«
»Und was ist die Langfassung?«
»Beschissen. Dieser bescheuerte Raketenwettlauf hatte alles vergiftet. Das KGB hat verrückt gespielt und überall Spione gesucht, die Ziele für den NATO – Erstschlag ausguckten. Und gleichzeitig haben sie aufgerüstet wie die Blöden. Man hat ja gesehen, was dabei herausgekommen ist. Haben sich ein bisschen übernommen, die Genossen. Wir aber auch. Irgendwie war das so wie im Sommer 1914.«
Theo schüttelte leicht den Kopf.
»Wie vor dem Ersten Weltkrieg.« Trautmann presste die Wörter noch quälender heraus, vielleicht weil er am Unverstand seines Gegenübers
Weitere Kostenlose Bücher