Das Moskau-Spiel
Aktentasche unter dem Sitz hervor und entnahm ihr das Buch, das er gerade las, The Quiet American von Graham Greene. Er schlug es auf, und ein Zettel fiel ihm auf den Schoß. Er nahm ihn und las: Ich liebe Dich. C. Er verharrte einen Augenblick mit dem Zettel in der Hand, dann faltete er ihn zwei Mal und steckte ihn in die Brusttasche seines Hemds. Er hätte nicht gedacht, dass es ihn noch berühren würde. Mavick erinnerte sich an die letzten Tage, an ihre Verzweiflung, weil er tatsächlich wahr machte, was er entschieden hatte, ohne vorher ein Wort darüber zu verlieren. Nach Moskau zu gehen. Ohne sie. Es waren hässliche Szenen gewesen. Aber sie wäre von Anfang an gegen Moskau gewesen, wenn er sie gefragt hätte. Nur die Quälereien hätten früher begonnen und mehr Zeit gehabt, sich zu steigern. Und er wäre vielleicht über die Grenze seiner Selbstbeherrschung getrieben worden, und davor hatte er Angst. Wie er sich in einer einzigen Sekunde sein Leben verderben könnte. Dass seine Eigenmächtigkeit den Streit nur verschärft hatte, wollte er nicht einsehen, obwohl sie ihm das wieder und wieder an den Kopf geworfen hatte. In der letzten Nacht hatte sie nicht mehr bei ihm geschlafen. Sie hatte sich auch nicht verabschiedet. Nun hatte sie es doch getan, dachte er. Er holte den Zettel aus der Brusttasche und sah ihn noch einmal an. Wehmut ergriff ihn. Aber dann immer mehr der Zorn, weil er in diesem Augenblick wehrlos war.
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Zurück in seinem Büro, warf Theo einen flüchtigen Blick auf die Post, schob die paar Briefe und Aktennotizen dann aber zur Seite. Er rief über das Haustelefon den Verwaltungschef an, erkundigte sich, wo er Scheffers Hinterlassenschaft auftreiben konnte, wurde ans Archiv verwiesen, und während er darauf wartete, dass dort jemand abnahm, staunte er, wie schnell die Hinterlassenschaften von toten Mitarbeitern weggeräumt wurden. Kaum gestorben, schon war das Zeug im Keller. Als er endlich eine Archivmitarbeiterin in der Leitung hatte, forderte er fast im Befehlston Scheffers Unterlagen an. Sie sagte schnippisch »Jawohl!« und legte auf. Und Theo bereute, dass er seine Missstimmung an der Falschen ausgelassen hatte.
Als er zufällig auf seine rechte Hand schaute, sah er, dass sie kaum sichtbar zitterte. Er hätte jetzt gerne getrunken, Whisky oder Wodka. Einen Schluck nur. Er starrte auf die Hand und versuchte, den Wunsch zu unterdrücken. Du schaffst es, sagte er sich. Dann laut: »Du schaffst es!« Es kam immer wieder. Theo bildete sich ein, dass die Zeiträume zwischen den Anfällen länger wurden. Bisher hatte er die Sucht immer besiegt, seit er sich gegen sie entschieden hatte. Noch hatte es im Dienst keiner gemerkt, außer Bananen-Meier, aber der hielt bisher dicht. Eigentlich hatte er es selbst nicht bemerkt, dass er zum Trinker geworden war. Dass er am Abend, wenn er aus dem Büro in seine Einzimmerwohnung kam und allein herumhockte, zu trinken begann, trotz der Magenkrämpfe, die ihn zuweilen und dann umso mehr packten. Dann hatte er eine Flasche in die Schreibtischschublade gelegt und schon mittags einen Schluck genommen oder auch zwei. Anschließend zerkaute er Pfefferminzbonbons, obwohl er die nicht mochte. Dann kaufte er einen Flachmann aus Edelstahl, umhüllt von dunkelblauem Leder, um sicherzugehen, dass er immer etwas zu trinken dabeihatte, wenn er es brauchte. Als er in seinem Büro den Flachmann an einem frühen Nachmittag angesetzt und die Bonbons schon bereitgelegt hatte, stürmte Bananen-Meier in sein Zimmer mitirgendeinem Papierzeug in der Hand, ohne vorher anzuklopfen. Meier glotzte ihn an, dann schüttelte er den Kopf, ganz leicht nur, und sagte: »Lass dich bloß nicht erwischen!« Und noch einmal, leise, aber eindringlich: »Lass dich nicht erwischen!«
Da wusste Theo, dass er die Wahl hatte, weiter zu trinken und irgendwann unterzugehen oder aufzuhören. Er hörte mit einem Schlag auf, das fand er weniger aufreibend. Obwohl es schon eine Weile her war, fand der Drang zu trinken immer wieder eine Windung in seinem Hirn, wo er sich dann festsetzte und versuchte alle anderen Gedanken zu ersticken. Theo hatte viele Kämpfe gegen die Sucht geführt und bisher alle gewonnen. Aber er fürchtete den einen Augenblick der Schwäche, nachdem er begriffen hatte, dass er zeitweilig versuchte, sich in Krisensituationen zu bringen oder wenigstens hineinzudenken, um endlich Grund zum Saufen zu haben. Warum war er zum Trinker geworden? Aus Langeweile, sagte er sich. In
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