Das Multiversum 1 Zeit
Della, aber ich glaube nicht, dass Sie wissen, was für mein Kind am besten ist.«
»Nein«, sagte sie. »Nein, das weiß ich wahrscheinlich nicht. Deshalb bin ich auch hier.«
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»Dann ist er also intelligent. Aber er muss noch wachsen, die Welt entdecken, mit anderen Kindern spielen. Bekommt er das alles in einem von diesen komischen Zentren?«
»Genau zu diesem Zweck wurden die Zentren eingerichtet, Bill.«
»Ich kenne die Theorie«, sagte Bill. »Aber in der Praxis ist es anders. Diese Kinder haben keine normale Kindheit.« Bill erzählte von den Auswirkungen des Fernsehens und des Internets: Es gab Talkshows, in denen Kinder mit riesigen Plastikkuppeln auf dem Kopf auftraten, es gab Fernseh-Prediger, die behaupteten, dass die Kinder ein Geschenk Gottes oder ein Fluch Satans wären und so weiter. »Es gibt ›Experten‹, die der Welt sagen, dass es in Ordnung sei, mein Kind anzugreifen, weil es anders ist. Und ich habe die Berichte über diese Auslandsschulen gesehen, in Australien und sonstwo, wo man die Kinder misshandelt und sie verhungern lässt und …«
»Das geschieht hier aber nicht, Bill.« Sie beugte sich mit einem autoritären Habitus vor. »Außerdem werde ich dafür sorgen, dass Tom beschützt wird.«
Zumindest will ich versuchen, den Schaden zu minimieren, den er erleidet, sagte sie sich. Vielleicht ist das meine wahre Berufung.
»Wieso wir, Ms. Della?« rief Bill Tybee. »Wieso unser Kind?«
Darauf hatte sie natürlich keine Antwort.
Emma Stoney:
Emma versuchte es, sich um Michael zu kümmern. Oder zumindest eine Art zwischenmenschlichen Kontakt mit ihm aufrechtzuerhalten.
Aber der Junge verließ fast nie seine Koje unten auf dem ›Frischfleisch‹-Deck. Er schien die ganze Zeit damit zu verbringen, über 381
irgendwelche Softscreen-Programme gebeugt auf dem Bett zu sitzen.
Wenn sie Michael zwecks Nahrungsaufnahme, Leibesübungen und Körperpflege förmlich aus dem Bett zerrten, schien das Kind zwischen Katatonie und Hysterie zu schwanken. Er war völlig le-bensuntüchtig. Er wiegte den Oberkörper, krähte vor sich hin und machte seltsame Handbewegungen, als ob er mit den Flügeln schlüge. Oder er starrte stundenlang auf die blinkende Lampe an einer Konsole.
Es gelang ihnen weder durch gutes Zureden noch durch liebe-volle Zuwendung, Michaels tief verwurzeltes Misstrauen ihnen gegenüber zu vertreiben.
Das betrübte Emma. Sie wusste, dass, wenn Michael sie ansah, er nur einen weiteren Erwachsenen in der langen Reihe sah, die ihn misshandelt, willkürlichen Regeln unterworfen und ständig bestraft hatten. Von Michaels Standpunkt aus war diese neue Umgebung nur ein neues Gefängnis, die sanften Hände und lächelnden Stimmen nur Teil neuer Regeln, die er zu lernen hatte.
Irgendwann würde man ihn wieder bestrafen.
Einmal versuchte sie ihn mithilfe eines Translators aus seiner Lethargie zu reißen. »Michael. Woran denkst du gerade?«
Ich bin nichts.
»Sag mir, was das bedeutet.«
Es bedeutet, dass ich nichts besonderes bin. Ich bin nirgendwo besonders.
Ich bin in keiner besonderen Zeit. Ich wüsste es nicht, wenn die Welt plötzlich einen Tag älter und einen Tag jünger gemacht würde. Ich wüsste es nicht, wenn die ganze Welt so weit nach links bewegt würde. Er hüpf-te seitwärts wie ein Frosch und grinste spitzbübisch. Es bedeutet, dass die Welt geboren wurde und sterben wird, genauso wie ich sterben werde. Er sagte das in aller Gemütsruhe, als sei das völlig selbstverständlich.
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Cornelius meldete sich zu Wort. »Das ist neu. Es klingt wie das Kopernikanische Prinzip. Keine privilegierten Beobachter. Er erstaunt mich jeden Tag aufs Neue.«
Emma fand Michaels computerübersetzte Stimme scheußlich.
Sie hörte sich an wie eine Frau im mittleren Alter, die einen ordinären Dialekt am Hals hatte. »Sag mir, woher du das weißt, Michael.«
Weil der Himmel nachts dunkel ist.
Nachdem sie für ein paar Minuten Softscreen-Recherchen angestellt und Querverweise von verschiedenen Quellen abgerufen hatte, vermochte sie sich auf diese Aussage erst einen Reim zu machen.
Es wurde ihr bewusst, dass es sich dabei um eine Version vom Olbers'schen Paradoxon handelte, einem alten kosmologischen Rätsel. Wieso ist der Himmel nachts überhaupt dunkel? Wenn das Universum unendlich und statisch wäre und für immer bestehen würde, dann wäre die Erde von einem Sternenfeld umgeben, das sich bis in die Unendlichkeit erstreckte. Und in jeder Richtung, in die Michael blickte, würde
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