Das Multiversum 1 Zeit
zugestehen?
Ich hätte mehr Zeit hier draußen verbringen sollen, sagte sie sich.
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Vielleicht war es sogar an der Zeit, zurückzutreten – nicht erst in ein paar Jahren, sondern jetzt.
Sie war natürlich zu alt für eigene Kinder, aber nicht für das weiß getünchte Bauernhaus und ein paar Pferde. Zumal sie, wenn sie in sich ging, nie Kinder hatte haben wollen. Sie hatte gesehen, dass Kinder wie aus heiterem Himmel kamen und das Leben von Menschen wie ein Orkan durcheinander wirbelten. Sie war ehrlich genug, sich einzugestehen, dass sie dafür zu selbstsüchtig war; sie wollte ihr Leben, das einzige Leben, das sie hatte, auskosten …
Natürlich qualifizierte sie das nicht unbedingt für den Besuch, den sie heute machen musste.
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Sie hatte ein Hilfegesuch erhalten.
Bemerkenswerterweise war es mit der Schneckenpost in Mauras Büro eingegangen. Sie öffnete den Umschlag und fand ein Bild eines fünfjährigen Kindes mit großen Augen, dazu einen Brief, von ungelenker Kinderhand verfasst. Er wäre nicht einmal von einem Handschriftenerkennungs-Programm zu entziffern gewesen und wimmelte von grammatikalischen und sonstigen Fehlern.
Die Lektüre eines Briefs mutete Maura geradezu nostalgisch an im Zeitalter der elektronischen Demokratie.
Der Brief stammte von einer Familie aus einer Stadt namens Blue Lake im nördlichen Iowa – mitten im Herzen ihres Wahlkreises, im Herzen des Mittleren Westens. Sie erinnerte sich, dass es in dieser Stadt ein College gab, aber zu ihrer Schande wusste sie nicht mehr, wann sie zuletzt dort gewesen war. Der Brief kam von verwirrten und besorgten Eltern, an die die Regierung das Ansinnen gestellt hatte, ihren Sohn wegzugeben. Das war ein Teil des größe-373
ren Skandals, der auf nationaler – sogar weltweiter – Ebene wegen des Umgangs mit den Blauen Kindern ausgebrochen war.
Das Problem war nur, dass Maura keine Möglichkeit hatte, hier etwas zu tun.
Sie griff nach der Softscreen und schickte sich an, eine AntwortE-Mail zu verfassen. Doch als sie da saß und den Papierschnipsel hielt, das altmodische statische Foto mit dem lächelnden Kind, schien das plötzlich nicht mehr genug.
Sie hatte aus dem Fenster in den trüben Himmel über Washington geblickt, hatte den Schwall des Verkehrslärms gehört. Sie brauchte Abstand von diesem Treibhaus-Scheiß und den endlosen Anklagen gegen Malenfant.
Sie blätterte im Tagebuch.
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Blue Lake mit seinen 9.000 Einwohnern war die klassische amerikanische Kleinstadt. Sie war um den großen glitzernden See her-umgebaut, dem sie auch ihren Namen verdankte. Die Innenstadt mit den Ziegelsteinbauten und den Geschäften in Familienbesitz wirkte massiv und schien für die Ewigkeit geschaffen. Es gab einen Park am Seeufer. Von dort ging ein strahlenförmiges Bündel Al-leen aus, die von großen Häusern aus dem neunzehnten Jahrhundert gesäumt wurden. Eine dieser Straßen erwies sich als die ge-suchte.
Sie hielt an und stieg aus dem Fahrzeug.
Die Luft war frisch, und es herrschte Stille bis auf entfernte Ver-kehrsgeräusche und das Rascheln des Laubs über ihrem Kopf. Der Gehweg wirkte sonderbar weich unter ihren Füßen. Es war natürlich intelligenter Beton, der sich selbst ausbesserte. Sie ging einen Pfad über einen glühenden grünen Rasen entlang. Ein knallrotes 374
Kinderfahrrad lag im Gras. Das Haus selbst hätte genauso gut in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gepasst, wären da nicht das mit Solarzellen gedeckte Dach gewesen, die knopfgroße Überwachungskamera an der Tür und der halb vom Blattwerk verborge-ne intelligente Mülleimer. So wurde Technik zum Wohl der Welt benutzt, ohne sie gleich zu verändern oder der Menschheit gar zu entfremden. Manchmal machen wir es doch richtig, sagte sie sich; die Zukunft muss nicht den Untergang bedeuten.
Dies ist ein guter Ort, sagte sie sich, ein menschlicher Ort. Und die Bundesregierung – nein, Maura, steh zu deiner Verantwortung, ich … ich will ein Kind abholen und es von diesem wunderschönen Ort in irgendein gottverlassenes Zentrum in Idaho oder Nevada oder sogar im Ausland bringen.
Sie drückte die Klingel.
Bill Tybee war in den Dreißigern und reagierte verschreckt auf die Kongressabgeordnete, die in sein Leben geplatzt war. Er bat sie herein und redete hektisch drauflos: »Meine Frau ist gerade im Ausland stationiert. Sie fand es aufregend, dass Sie zu uns kommen wollten. Tommy ist unser älteres Kind. Wir haben noch ein kleines Mädchen, Billie, noch keine zwei
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