Das Multiversum 1 Zeit
sein Auge einen Lichtstrahl von der Oberfläche eines Sterns empfangen. Der ganze Himmel müsste so hell leuchten wie die Oberfläche der Sonne.
Weil der Himmel aber dunkel war – und weil Michael herausgefunden hatte, dass er an keinem besonderen Ort im Universum war und dass es somit keine besonderen Orte gab –, konnte das Universum weder ewig noch unendlich oder statisch sein; wenigstens eine dieser Annahmen musste falsch sein.
Also müssen die Sterne geboren worden sein, so wie ich geboren wurde, sagte Michael. Sonst würde ihr Licht den Himmel erfüllen. Menschen werden geboren, Menschen altern, Menschen sterben. Ich wurde geboren, ich altere, ich sterbe. So wurden auch die Sterne geboren, die Sterne altern, die Sterne sterben. So ist das eben.
Vom Urknall zum Hitzetod, nur durch Beobachtung der Sterne.
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»Vielleicht resultiert das aus seinem Glaubenssystem«, sagte Cornelius. »Sein Volk wurde zwangsmissioniert, aber die Lozi haben trotzdem viele ihrer alten Glaubenssätze bewahrt. Sie glauben auch an ein Leben nach dem Tod, aber es gibt keinen Ort der Bestrafung oder Belohnung. In dieser Welt der Krankheiten, Missernten, Hungersnöte und eines kurzen, entbehrungsreichen Lebens leidet man schon genug. Im nächsten Leben ist man glücklich. Sie tragen Stammeszeichen, damit sie nach dem Tod bei ihren Verwandten versammelt werden.«
Sie fragte Michael, ob er glaubte, dass es für die Welt und die Sterne ein glückliches Leben gäbe, nachdem sie gestorben waren.
O ja, sagte die Übersetzungsmaschine. O ja. Aber nicht für Menschen. Wir müssen es für andere richtig machen. Verstehst du?
»Moses«, knurrte Malenfant. »Moses und das Gelobte Land. Sind wir Menschen Moses, Michael?«
Ja, o ja.
Aber sie war sich nicht sicher, ob sie aneinander vorbei geredet hatten.
■
Eines Tages fand Emma beim Saubermachen ein Lebensmittel-Depot hinter einem Lüftungsgitter – nur Brocken und Krümel in Tü-
ten, Reste von Müsliriegeln, ein paar dehydrierte Pakete, die so aussahen, als seien sie von Ratten angenagt worden. Sie ließ alles genau an dem Ort, wo sie es gefunden hatte.
Cornelius Taine:
In gewisser Weise hat Michael die Seele eines Mathematikers.
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Ich weiß, wie er sich fühlt. Ich erinnere mich an das eigenartige Gefühl, als ich mir bewusst wurde, dass, wenn ich ein Mathematiker würde, ich mein Leben mit der Suche nach einer mystischen Erfahrung verbringen könnte, die nur wenigen meiner Mitmen-schen vergönnt wäre.
Mystisch? Auf jeden Fall. Daten dienen allenfalls als Leitsystem bei der Reise in die Tiefen des Geistes. Wir lassen uns eher vom Gefühl der Ästhetik leiten, wenn wir unsre wunderschönen mathematischen Strukturen erschaffen. Wir glauben, dass in den elegan-testen und einfachsten Strukturen wahrscheinlich die größte Wahrheit liegt. Deshalb suchen wir auch nach vereinheitlichenden Theorien – Ideen, die anderen Vorstellungen zugrunde liegen und sie zusammenführen – sowohl in der Mathematik als auch in der Physik.
Wir sind Künstler, wir sind Mathematiker, wir sind Physiker.
Aber das ist noch nicht alles. Wir hegen immer die Hoffnung, dass ein mathematisches Konstrukt, ein Produkt der menschlichen Vorstellungskraft, dennoch mit einer Wahrheit in der Außenwelt korrespondiert.
Vielleicht verstehen Sie das. Als Sie in der Schule den Satz des Pythagoras lernten, erfuhren Sie zugleich etwas über jedes recht-winklige Dreieck in der Welt. Wenn Sie die Newton'schen Gesetze verstanden haben, dann wissen Sie über die Eigenschaften aller Teilchen Bescheid, die je existiert haben. Es ist ein Gefühl des Erfolgs, der Freude – der Macht.
Für die meisten von uns sind solche transzendentalen Momente selten. Aber nicht für Michael. Das ganze Universum ist das Labor für seine Gedankenexperimente. Und angesichts der einfachen Werkzeuge, mit denen er arbeitet – bis hin zu Zeichnungen im Staub – ist er ein Virtuose. Er befindet sich in einem Zustand der … Ekstase? – Vielleicht.
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Natürlich ist es auch möglich, dass sein Genius mit einer tieferen Störung zusammenhängt.
Es gibt eine leichte Form des Autismus, die als Asperger-Syndrom bezeichnet wird. Sie ist durch Introvertiertheit und ein Defizit an Emotionen gekennzeichnet, woraus wiederum eine fehlende Bereitschaft und Unfähigkeit zur Kommunikation sowie ein man-gelndes Bewusstsein für und Einfühlungsvermögen in die Belange anderer Menschen resultieren. Außerdem gehen mit dieser Befindlichkeit ein enger
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