Das Multiversum 1 Zeit
Malenfant. Zu deiner Zeit war das nicht so.
»Obwohl jetzt die Lichter ausgehen?«
Ja.
»Egal, wie wohlhabend und zufrieden und verständnisvoll sie sind, sie werden alle sterben. Alle Menschen auf der Erde, auf dem Mond und dem Mars und wohin sie sonst noch überall hingegan-gen sind … Erzähl mir von der Erde, Michael.«
Michael lächelte, und Malenfant hörte Stimmen.
AD 2051:
In Großbritannien und anderen Teilen der Europäischen Födera-tiven Union ist Gott tot. Oder wenn schon nicht tot, dann spielt er zumindest keine Rolle mehr.
Glauben Sie mir, Monsignore, ich weiß, wovon ich rede. Ich bin gerade von einem einjährigen Aufenthalt in London zurückgekehrt. Religionsausübung und Glaube sind in großem Umfang zu-sammengebrochen.
Es ist klar, dass die Verinnerlichung der Carter-Botschaft in manchen Teilen der Welt eine Art kollektiver Verzweiflung und 649
das Gefühl bewirkt hat, dass es nichts mehr gäbe, wofür es sich noch zu kämpfen lohnte. In Großbritannien drückt diese Überzeugung sich in der Negierung einer äußeren Grundlage für moralisches Handeln aus. Die Briten betreiben den Umbau der morali-schen Grundlagen ihrer Gemeinschaft. Sie orientieren sich an philosophischen Doktrinen wie dem ethischen Relativismus – wobei Moralvorstellungen relativ zueinander gewichtet werden und nicht auf der Grundlage einer imaginären absoluten Moral – dem Emo-tivismus, wobei aus dem Bauch heraus auf Ungerechtigkeiten und dergleichen reagiert wird und dem Präskriptivismus, der darauf vertraut, dass angemessene moralische Standards von menschlichen Autoritäten verkündet werden, ohne die Möglichkeit einer Berufung auf eine höhere oder äußere Instanz.
Dass der britische Staat überhaupt noch Bestand hat, dass er nicht längst in Barbarei und Chaos versunken ist, ist wahrscheinlich dem Charakter der Briten zu verdanken. Genauso wie die Briten die erste Industriegesellschaft schufen, wurden sie die erste post-industrielle Kultur. In ähnlicher Weise sind sie seit kurzem post-imperial. Und nun scheinen sie die erste wahrhaft post-religiöse Nation zu werden.
Es ist schon seltsam, dass ein Land, das wir uns als bodenständig und altmodisch vorstellen, erneut Wegbereiter in eine unbekannte Zukunft ist.
Werden die Briten überleben? Werden sie sich gegenseitig zerflei-schen? Ich hege die Hoffnung, dass sie eine Chance haben, einen Weg aus dem Dunkel und ein Ende für ihre Geschichte zu finden, ehe in zweihundert Jahren der Vorhang für uns alle fällt – unter der Voraussetzung natürlich, dass die Untergangsprophezeiung überhaupt wahr ist.
Aber vielleicht sind das auch zu kontroverse Ansichten für einen Jesuiten. Wir sind schließlich Missionare.
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Ich empfehle, dass der Vatikan weitere Missionen und eine Prä-
senz finanziert. Wir müssen hingehen und von Gott sprechen und zugleich dieses neue Phänomen studieren. Wie viel Gutes das aber bewirken wird – und was ›Gut‹ in diesem Zusammenhang überhaupt bedeutet –, ist jedoch schwer zu beurteilen …
AD 2079:
Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sie müssen wissen, weshalb extreme Gewalt erforderlich war, um die Unruhe in dieser Wohngegend zu unterdrücken. Orientierungskurse wie dieser sollen Ihnen dabei helfen, die erlittenen Verluste und die langfristi-gen Verwundungen zu verarbeiten.
Die Unruhen speisen sich aus einer Sehnsucht nach einer ver-meintlich ›besseren Zeit‹, als Amerika sich noch selbst regierte, als es wirtschaftliches Wachstum gab, schnelle Autos, billige Lebensmittel und dergleichen.
Aber Sie dürfen nicht nostalgisch sein. Nostalgie ist schädlich.
Sie müssen das gesamte Bild sehen. Die Erde ist durch den Malthus'schen Flaschenhals geschlüpft. Wir haben einen großen Krieg vermieden, und über drei Milliarden Menschen sind in eine bessere Zukunft gegangen. Die anderen haben ihr Schicksal im Großen und Ganzen mit Würde getragen, und wir verneigen uns vor ihnen.
Heute ist die Erde stabil.
Wir haben uns in eine geschlossene Wirtschaft verwandelt, ein riesiges Raumschiff. Rohstoffgewinnung und Energie-Erzeugung sind praktisch von der Erdoberfläche verschwunden und damit auch der Schaden, den sie angerichtet haben – vor allem die Umweltverschmutzung durch Bergbau, Raffinerien, Transport, Verbrennung, Abfallbeseitigung. Man muss wissen, dass die Summe der zirkulierenden Schlüsselgüter wie Metalle und Glas immer konstant ist. Es muss nur Energie zugeführt werden, die überwie-651
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