Das Multiversum 1 Zeit
erforderlich gewesen wäre. Und viele gingen noch weiter und bekamen gar keine Kinder mehr, weil sie sich Sorgen wegen der Zukunft machten. Das heißt, die Leute glaubten nicht, dass es überhaupt noch eine Zukunft gab. Es schien ungerecht, sogar unmoralisch, Kinder in eine solche Lage zu bringen. Wenn ein Kind gar nicht erst geboren wurde, vermochte man es auch nicht ungerecht zu behandeln, weil ihm das Leid der Existenz von vornherein erspart blieb. Alles klar?
Nun, die Welt rauscht vielleicht auf den Eisberg zu, aber der alte Darwin hat noch immer die Hand an der Ruderpinne.
Wovon ich eigentlich spreche? Nur so viel: Wenn die meisten Menschen keine Kinder mehr in die Welt setzen, dann werden die paar Leute, die Kinder lieben und gern welche hätten – Leute wie 654
ich –, in einer oder zwei Generationen in der Mehrheit sein. Einfaches Rechenexempel.
Und genau das geschieht nun.
Mein Freund, ich bin Ihr Nachbarschafts-Beauftragter einer neuen Spezies: Homo Philoprogenitus, was ›Liebhaber vieler Kinder‹ bedeutet. Wie Sie sehen und vielleicht auch hören können.
Ich zahle meine UN-Strafe. Das ist es mir wert. Eine Glückssteu-er. Was ist schon Geld?
Natürlich werden diese Kinder, falls Carter Recht hat, nicht alt werden. Aber es ist immer noch besser, gelebt zu haben und glücklich gewesen zu sein als nie existiert zu haben. Wozu sind wir denn da, wenn nicht zu dem Zweck, die Zahl der glücklichen Tage der Menschheit zu erhöhen? Nicht wahr?
Außerdem habe ich vor, einen Carter-Tag einzuführen. Wir werden verdammt viel Spaß haben. Nur dass es dann niemanden mehr geben wird außer uns H Phils, und wir sind freundliche Menschen.
Sie sind eingeladen. Bringen Sie Frau und Kinder mit. Ach, Sie haben E-Kinder? Ja, ich weiß, besser als gar keine. Ich kann damit aber nichts anfangen. Dann bringen Sie eben den Hund mit. Oder ist er etwa auch ein E-Zamperl? He, wie wär's mit einem Poker-abend am Dienstag?
AD 2198:
Man muss wissen, dass das Christentum immer auf gewisse ar-chaische, mythische Elemente gegründet war. Grundsätzlich gibt es die Heilige Familie in Gestalt von Vater, Mutter und Kind. Und die Person des Kinds, Jesus, hat immer im Vordergrund des christlichen Bewusstseins gestanden. Wie in anderen mythischen Strukturen steht das Kind für Erneuerung – die frühlingsgleiche Wie-dergeburt des Lebens nach dem Tod, wobei es hier natürlich für die Erneuerung steht, die wir alle uns in Gottes Armen erhoffen.
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Was außerdem durch die Wiederauferstehung von Christus nach seinem körperlichen Tod symbolisiert wird.
Aber wir scheinen eine Generation zu sein, die zum Leben in der Endzeit verurteilt ist. Wir leben in einer Welt ohne Hoffnung auf Erneuerung: Zehnmal noch kommt der Frühling, und dann wird der ewige Winter sich auf uns herabsenken. Wir sind bar jeder Hoffnung.
Welche Bedeutung hat für uns noch der christliche Mythos, wenn Gott uns verlassen hat?
Die Bedeutung liegt in der Person von Maria, Mutter von Jesus.
Maria kam und trauerte am Fuß des Kreuzes. Als ihr Sohn Sein Leben für die Menschheit gab, hat Er auch seine Mutter verlassen.
Also verurteilen wir heute das große und selbstsüchtige Streben des Sohns und verspüren die Trauer von Maria, der Mutter, die Er verließ.
Denn auch wir sind verlassen worden. Wir schöpfen Kraft aus Marias Würde im Angesicht des Verrats. Wir sind keine Christen mehr. Wir sind Marien.
Lasset uns beten.
AD 2207:
Es ist die beste und die zugleich schlechteste aller Zeiten. Wer das geschrieben hat? … Das spielt keine Rolle. Wir sind durch die Tragödie zusammengerückt, das steht fest. Denjenigen von uns, die einen Funken der Erkenntnis haben – die wissen, dass selbst die schreckliche Vernichtung, die da kommen wird, nur eine Stufe in der endlosen Entwicklung von Leben und Geist ist, ebenso be-dauerlich und unvermeidlich wie der Tod eines einzelnen Menschen, wie die Blauen uns zu lehren versuchten –, ist das ein Trost, auch wenn es unser Vorstellungsvermögen übersteigt. Und wir verurteilen auch nicht die Meereskinder, die sich in den lichten Trost der Bewusstlosigkeit geflüchtet haben. Die Welt dreht sich weiter, 656
heldenhaft, selbstsüchtig und verzweifelt wie eh und je. Die Kinder sind natürlich ein Trost gewesen. Ein Blick in die Geschichte zeigt das, und dass nach dem Ereignis in Nevada glücklicherweise keine Blauen Kinder mehr geboren wurden … Ich entschuldige mich.
Selbst jetzt neige ich eher dazu, die Geschichte zu
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