Das Multiversum 1 Zeit
den Käfig, und Emma hörte ein leises Plätschern und sah den dünnen Strahl einer gelblichen Flüssigkeit.
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Anna ging in die Hocke. »Wie geht es Ihnen?« fragte sie Emma.
»Dann habt ihr also wieder einen Kugelblitz-Käfig gebaut. Noch mehr Quarkmaterie?«
»O nein. Noch nicht. Das ist keine Quarkmaterie. Erkennen Sie es denn nicht? … Nein, Sie sehen es wohl nicht.«
»Was dann?«
»Es ist Eigelb«, sagte Anna. »Eigelb von einem Eierstern.«
»Einem was?«
Billie seufzte mit aller Ernsthaftigkeit, die ein sieben Jahre altes Kind aufzubringen vermochte. »Sie meint«, sagte sie und betonte jedes einzelne Wort, »einen Neutronenstern.«
»Er gleicht doch einem Ei«, sagte Anna. »Die zerfallenen Überreste einer Supernova. Außen fest, und im Innern schwappen komische Flüssigkeiten.«
»Und daraus besteht dieses Ding? Der Kugelblitz? Aus einem Tropfen Neutronenstern-Materie?«
»Nur eine Milliarde Tonnen oder so«, sagte Anna. »Das Material stammt ursprünglich vom Mond.«
»Sag mir, wozu ihr das braucht.«
»Wir brauchen das nicht«, sagte Billie und wischte sich die Nase an Emmas Ärmel ab.
»Wir brauchen das, was aus ihm wird«, sagte Anna. »Die degenerierte Materie ist … hmm … ein Zünder. Jeden Moment wird ein Fragment echter Quark-Materie ankommen.«
»Von wo?« fragte Emma.
Auf diese Frage gab Anna keine Antwort. »Wenn der Kern der Quarkmaterie auf den Zünder trifft, wird er durch schwache Wechselwirkung einen austarierten Strangeness-Inhalt erzeugen, und freie Neutronen werden absorbiert, weil es keine Coulomb-Barriere gibt…«
»Anna, meine Liebe, ich verstehe kein einziges Wort.«
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»Der ganze Zünder wird sich sehr schnell in Quarkmaterie verwandeln.«
Emma erinnerte sich an einen Bericht, den Dan Ystebo für Maura verfasst hatte. Ein Neutronenstern explodierte zu Quarkmaterie.
Die halbe Masse wurde binnen Sekunden in Energie umgewandelt.
So gewaltige Explosionen, dass man sie sogar in einer anderen Galaxis sah.
»Außerdem«, sagte das Mädchen mit einem Anflug von Stolz, »ist der Tropfen aus degenerierter Materie so geformt, dass der Kollaps konzentriert wird. Im Mittelpunkt des Tropfens, in einem Volumen kleiner als ein Proton, erzielen wir sogar eine höhere Energiedichte als im Herzen eines kollabierenden Neutronensterns. Eine höhere Energiedichte, als sie irgendwo in der Natur vorkommt. Eine Dichte, zu deren Entstehung Intelligenz und Planung nötig sind.«
»Mein Gott. Wieso, Anna? Was habt ihr vor? Wollt ihr den Mond in die Luft jagen?«
»O nein«, sagte Anna leicht ungeduldig. »Nicht nur das. Es kommt hier nicht auf den Betrag der freigesetzten Energie an, sondern die Präzision des Ablaufs.«
»Und deshalb«, sagte Emma, die von einem unguten Gefühl be-schlichen wurde, »bezeichnet ihr dieses Ding als Zünder. Ihr habt die Absicht, damit etwas anderes auszulösen. Etwas viel Größeres.
Nicht wahr?«
Anna lächelte fröhlich. »Nun begreifen Sie«, sagte sie gut ge-launt.
Die siebenjährige Billie hob den Kopf und schaute Emma mit ihrem runden Gesichtchen an. »Vakuum-Kollaps«, sagte sie behut-sam. »Hast du Angst?«
Emma schluckte. »Ja. Ja, ich habe Angst, Billie. Aber ich weiß nicht, wovor ich mich eigentlich fürchte.« Emma sah, dass die Oberlippe des Kinds zitterte. Emma beugte sich unter Schmerzen 645
zu Billie hinunter. »Weißt du was«, sagte sie, »es ist in Ordnung, zu weinen. Aber ich werde nicht weinen, wenn du auch nicht weinst. Na, was sagst du dazu?«
Und dann ging es plötzlich und ohne Vorwarnung los.
Reid Malenfant:
Malenfant trieb im All.
Er erinnerte sich daran, wie er sich Emma geschnappt und sie überredet, förmlich gezwungen hatte, mit ihm die O'Neill zu besteigen. Und er erinnerte sich, wie er sie weggestoßen, sie mit Lü-
gen geschützt und auf der Erde zurückgelassen hatte.
Er erinnerte sich, wie er sie in der Dunkelheit und Stille des Alls geliebt hatte. Und er erinnerte sich daran, wie er schwerelos und desorientiert aufgewacht war und sie gesucht hatte – aber sie war nicht da gewesen, war niemals dagewesen.
Er erinnerte sich daran, wie sie ihn auf der seltsamen Reise durch die Vielfalt der Universen begleitet hatte. Und er erinnerte sich, dass er allein gereist war, verloren, furchtsam, unvollständig.
Er erinnerte sich, dass sie schließlich die Wahrheit über ihn erfahren hatte. Er erinnerte sich, wie sie in seinen Armen gestorben war. Er erinnerte sich daran, wie sehr er sie vermisst hatte, sich
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