Das Multiversum 1 Zeit
ohne Bedauern von diesen Konstrukten. Manchmal stellte sich aber heraus, dass seine Erfin-dungen besser waren, und dann behielt er sie bei.
Er liebte die Stringenz der mathematischen Beweisführung – eine Kette von Gleichungen und wahren Aussagen, die zu einer tieferen, reicheren Wahrheit führten, wenn man sie richtig manipulier-175
te. Er hatte das Gefühl, dass seine eigene Sicht der Welt sich her-auskristallisierte und verfestigte wie die Frostmuster, die er in den Kühlschränken sah. Sein Denken beschleunigte sich.
Im Mathematikunterricht wurde er es bald überdrüssig, im gleichen Tempo wie die anderen Kinder arbeiten zu müssen.
Einmal wurde er sogar renitent.
Da wurde er zum ersten Mal bestraft; von einer Schwester, die ihn anschrie und schüttelte.
Er wusste, dass das eine Warnung war: dass dieser Ort doch nicht so freundlich war, wie er schien. Es gab Regeln, die er zu lernen hatte, und je eher er sie lernte, desto weniger Verdruss hätte er.
Also lernte er.
Er lernte, still dazusitzen, wenn er vor den anderen fertig geworden war. Auf diese Art vermochte er seine Arbeit fast genauso effektiv zu erledigen.
Michael schien derjenige zu sein, dem die Mathematik am besten gefiel. Doch die meisten Kinder hatten ein oder zwei Fächer, in denen sie Spitzenleistungen erbrachten. Und dann musste Michael sich anstrengen, während die anderen ruckzuck fertig waren und es riskierten, sich den Zorn des Lehrers zuzuziehen.
Die Kinder, die dieses Talent nicht zeigten, wurden bald wieder von der Schule genommen. Michael wusste nicht, was mit ihnen passierte.
Es war paradox. Wenn man nicht intelligent genug war, wurde man von der Schule genommen. Wenn man zu intelligent war, wurde man wegen seiner Ungeduld bestraft. Michael versuchte auch diese Regel zu beherzigen und sein Licht im Zweifelsfall unter den Scheffel zu stellen.
Im Grunde war es auch egal. Die meiste Arbeit verrichtete er ohnehin im Kopf, im Dunklen, und er erzählte auch keinem etwas davon.
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Es kamen viele Besucher: Erwachsene, die groß und gut gekleidet waren und sich in den Klassenräumen und Wohnheimen um-schauten. Manchmal brachten sie Leute mit Kameras mit, die lächelten und staunten, als ob die Kinder etwas von großer Bedeutung täten. Einmal nahm eine Frau Michael die Softscreen weg und begutachtete mit einem Ausruf des Erstaunens die Arbeit, die er dort abgespeichert hatte. Er bekam eine neue Softscreen, aber die war natürlich leer und enthielt keine der Arbeiten, die er fertig gestellt hatte. Aber das war ihm auch egal. Das meiste hatte er eh im Kopf.
Es gab hier ein Mädchen namens Anna. Sie war etwas älter und größer als der Rest und schien auch die Regeln schneller zu lernen als die anderen. Michael fiel auf, dass sie große graue Augen hatte, grau und aufmerksam. Sie versuchte den anderen – auch Michael – über die Softscreen verständlich zu machen, was von ihnen erwartet wurde.
Das hatte zur Folge, dass sie öfter bestraft wurde als die meisten anderen, aber sie tat es trotzdem.
Viele Kinder malten blaue Kreise auf ihre Bücher und Softscreens und sogar auf die Haut und an die Wände der Wohnheime. Michael tat das auch; er machte das schon seit langer Zeit, wenn er auch nicht wusste, was das überhaupt bedeutete.
Diese Zeit – im Rückblick eine ebenso seltsame wie schöne Zeit – währte aber nicht lang.
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Michael konnte das zwar nicht wissen, aber es war die Veröffent-lichung der Carter-Prophezeiungen – die Botschaft vom Ende der Welt –, die die Veränderungen in den Schulen, einschließlich seiner, herbeiführte.
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Weil die Leute plötzlich Angst bekamen: vor der Zukunft und vor ihren eigenen Kindern.
Leslie Gandolfo:
Offen gesagt, unser größtes Problem, seit dieser Carter-Weltuntergangs-Scheiß veröffentlicht wurde, sind die Fehlzeiten. Sie sind landesweit um mehr als hundert Prozent angestiegen. Nicht nur dass die Produktivität im Keller ist und unser Qualitätsmess-Programm einen drastischen Rückgang in allen Funktionen zeigt.
(Außer dem Rechnungswesen, weshalb auch immer.) Wir hatten auch ein paar Vorkommnisse von Gewaltanwendung, unmorali-schem Verhalten und so weiter am Arbeitsplatz, von denen manche, aber nicht alle, auf den Konsum von Alkohol und/oder Dro-gen zurückgehen.
Es scheint, dass alle diesen pseudowissenschaftlichen Mist glauben und dass es kein Morgen mehr gäbe. Aber natürlich erwarten die Blaumacher, dass wir die Gehälter und Zulagen und Sozialleis-tungen weiter
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