Das Multiversum 1 Zeit
in unsren Städten beobachten, dadurch motiviert ist, obwohl die Verwerfungen, die durch das Phänomen der so genannten ›Blauen Kinder‹ auf einer fundamentalen Ebene – das heißt der Ebene der Kern-Familie – verursacht werden, zweifellos dazu beitragen …
Es war ein ganzes Bündel von Reaktionen, durch das eine instabile Spezies nach den schlechten Nachrichten aus der Zukunft in einen Abwärtssog geriet. Vielleicht würde die Menschheit letzten Endes nicht durch Natur und Wissenschaft zu Fall gebracht, sondern durch die schleichende Aushöhlung der Moral.
Inmitten dieser Konfusion erhielt Malenfant eine Vorladung vor den Kongress-Ausschuss für Raumfahrt, Wissenschaft und Technologie in Washington, DC. Ein Auftritt, der – wie Maura sofort erkannte – vielleicht seine letzte Chance war, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
Emma Stoney:
An dem Tag, als Malenfant seine Aussage machen sollte, stand Emma früh auf. Sie hatte vor lauter Nervosität eh kaum ein Auge zugemacht.
Sie unternahm einen Spaziergang durch Washington, DC. Es war ein warmer Morgen. Der Verkehrslärm lag als Hintergrund-Brummen in der schwülen Luft.
Sie folgte der Mall, dem als Grünstreifen angelegten Park, der sich eine Meile vom Gebäude des Capitols bis zum Lincoln Me-morial hinzog. Das Gras war gelb, und der Boden war hart und von der Sonne gebacken, obwohl es erst April war. Die Hitze nahm in Wellen zu. Es war, als ob sie über eine heiße Herdplatte ginge. Von dort aus sah sie ein paar der großen Gebäude der Na-186
tion: Regierungsgebäude und Museen. Reichlich neoklassizistischer Marmor, weiträumig verteilt: Wenn es je eine imperiale Haupt-stadt gegeben hatte, dann war das eine – eine Verkörperung der Macht, wenn schon nicht des guten Geschmacks.
Sie spielte mit dem Gedanken, sich die VR-Galerie über die Erforschung der Asteroiden anzuschauen, die Malenfant dem Luft-und Raumfahrtmuseum vermacht hatte. Typisch Malenfant: beeinflusste die öffentliche Meinung mit einer scheinbaren Geste der Großzügigkeit. Vielleicht ein andermal, sagte sie sich.
Sie erreichte das Washington Monument: Nachdem es im Jahr 2008 von christlichen Libertinären fast zerstört worden wäre, erstrahlte es nach einer aufwendigen Restaurierung wieder in altem Glanz. Doch die Flaggen, die das Denkmal umringten, waren alle auf halbmast zum Gedenken an die Amerikaner, die im letzten antiamerikanischen Terroranschlag – wo war das gleich noch mal gewesen, ach ja, in Frankreich – ihr Leben verloren hatten.
Und dann drehte sie sich um und schaute direkt aufs Weiße Haus: noch immer – möglicherweise – die wichtigste Macht-Zentrale der Welt. Auf der anderen Straßenseite, gegenüber dem Wei-
ßen Haus schien ein Elendsviertel entstanden zu sein, wo Bettler, Protestierer und Religionsfuzzies ihr Geschäft unter dem Schlaf-zimmerfenster des obersten Befehlshabers verrichteten.
DC war ein atmosphärisch dichter Ort, geschichtsträchtig und mit einer Aura der Macht. Im Vergleich dazu muteten Malenfants Abenteuer in der Wüste und im Weltraum geradezu wie alberne Träumereien an.
Nichtsdestoweniger hatte Malenfant sich zum Kampf gestellt.
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Maura musterte Emma. »Also, Malenfant. Was ist nun mit euch beiden?«
»Hmm?«
»Ich verstehe nicht, weshalb ihr immer noch zusammen seid.«
»Wir sind geschieden.«
»Eben drum.«
Emma seufzte. »Das ist eine lange Geschichte.«
Maura grunzte. »Glauben Sie mir, in meinem Alter ist alles eine lange Geschichte.«
Um die beiden etwas aufzulockern, sagte Maura Della, hätte sie Emma als besonderen Gast in den Fitnessraum des Weißen Hauses mitgenommen, der sich im Keller des Rayburn House-Bürogebäudes befand. Die Räumlichkeiten waren kleiner, als Emma erwartet hatte und umfassten ein Schwimmbecken, Sauna-und Massageräu-me, ein Squashfeld und Trainingsgeräte. Maura und Emma hatten sich für Schwimmen, Sauna und Massage entschieden, und nun genoss Emma das Gefühl der Entspannung, während der mechanische Masseur ihr mit Plastikfingern den Rücken massierte.
Sie hatten jung geheiratet – er war in den Dreißigern, sie in den Zwanzigern. Emma hatte ihre eigene Karriere verfolgt. Trotzdem hatte die Aussicht sie gereizt, seinen schönen, kindlichen und phantastischen Träumen einer menschlichen Expansion ins All zu folgen. Sie wusste, dass sie in der Öffentlichkeit die Rolle einer Soldatenfrau spielen würde, vielleicht einer Astronautenfrau. Und diese Einrichtungen waren so alt und
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