Das Multiversum 2 Raum
Zeitströme gebe. Vielleicht fallen und steigen sie zugleich. Sie sind weit gereist, um mich zu sehen. Ich werde Ihnen zu essen und zu trinken geben.«
Er drehte sich um und ging über den Mond. Nach einem Moment folgte sie ihm.
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Die aufgelassene Mondbasis namens Edo war eine Ansammlung aus Betongebäuden – Wohnmodulen, Kraftwerken, Lagerhäusern, Produktionsstätten –, die halb in der kraterübersäten Ebene vergra-343
ben waren. Überall gab es Roboter, aber sie standen reglos da. Offensichtlich waren die Batterien leer.
Eine einzige Lampe brannte wieder in der Mitte des alten Komplexes. Takomi lebte im Zentrum von Edo, in dem, was laut seiner Aussage einmal ein Park gewesen war, den man in einer künstlichen Höhle angelegt hatte. Bizarrerweise gab es sogar einen uralten McDonald's. Das Inventar war ausgeräumt, und die roten und gelben Plastiklettern waren gesplittert und verblichen. Ein einsamer Kirschbaum wuchs hier. Er hatte leuchtend grüne Blätter und war der einzige Farbtupfer im tristen Grau des glasierten Regolith.
Dies war der Hauptstützpunkt, den die japanische Regierung im einundzwanzigsten Jahrhundert errichtet hatte. Nishizaki Industries hatte sich jedoch in Landsberg niedergelassen und im Krater Tagebau betrieben. Das ausgehöhlte Landsberg war nun die Hauptstadt des Monds, und das enge und primitive Edo hatte man aufgegeben.
Sie zog den Anzug aus. Sie hatte Mondstaub eingeschleppt. Er haftete an den Händen und sah wie Bleistiftabrieb aus. Sie wusste, dass das wie Graphit schimmernde Zeug nur schwer zu entfernen war.
Er brachte ihr grünen Tee und Reis.
Ohne den Anzug war Takomi ein kleiner, runzliger Mann; er sah aus wie sechzig, obwohl der optische Eindruck beim aktuellen Stand der Lebensverlängerungs-Technik nur noch bedingte Aussa-gekraft hatte. Er hatte ein rundes zerfurchtes Gesicht, und die Augen waren von ledrigen Falten umrandet. Er sprach pfeifend, als ob er Asthma hätte.
»Sie hegen den Baum«, sagte sie.
Er lächelte. »Einen Freund braucht doch jeder. Es ist schade, dass Sie die Kirschblüte verpasst haben. Ich feiere hier immer ichibuzaki. Wir Japaner haben nämlich ein Faible für Kirschen; sie re-344
präsentieren den alten Glauben der Samurai, dass die Blüte das Leben symbolisiert. Schön, aber verletzlich und allzu kurz.«
»Ich verstehe nicht, wie Sie hier leben können.«
»Der Mond ist eine ganzheitliche Welt«, sagte er sanft. »Er vermag einen Menschen am Leben zu erhalten.«
Takomi sagte ihr, dass er den Mondboden als Strahlenschutz verwendete. Er buk ihn in primitiven Mikrowellenöfen und stellte Keramik und Glas her. Durch Magma-Elektrolyse gewann er Sauerstoff aus dem Mondboden: Er schmolz den Boden mit fokussier-tem Sonnenlicht und schickte einen elektrischen Strom hindurch, um das O Zwei freizusetzen. Die Magma-Anlage, die er aus Jahrzehnte alten Bauteilen improvisiert hatte, arbeitete langsam und energieintensiv, doch dafür hatte der Elektrolyseprozess einen hohen Wirkungsgrad. Takomi sagte, an Sonnenlicht hätte er keinen Mangel, aber je weniger Erdreich er schleppen müsste, umso besser.
Er bediente ein Gerät, das er als Grauen bezeichnete: Ein automatisiertes Fahrzeug, das schon hundert Jahre alt und so mit Staub verkrustet war, dass es die gleiche Farbe hatte wie der Mond. Der vom Sonnenlicht angetriebene Graue pflügte geduldig über die Mondoberfläche. Er saugte Geröll an und stieß Glasscheiben und Solarzellen aus, täglich ein paar Quadratmeter. Im Lauf der Zeit hatte der Graue eine Solar-Anlage mit einer Fläche von ein paar Quadratkilometern angelegt und erzeugte elektrischen Strom mit einer Leistung im Megawattbereich.
»Das ist erstaunlich, Takomi.«
Er lachte meckernd. »Wenn man bescheidene Ansprüche hat, ist der Mond großzügig.«
»Trotzdem fehlen Ihnen die Bausteine des Lebens. Das ist das alte Lied auf dem Mond. Kohlenstoff, Stickstoff, Wasserstoff …«
Er lächelte sie an. »Ich muss gestehen, dass ich mogle. Der Beton dieser Geisterstadt ist voll Wasser.«
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»Sie zapfen Beton an?«
»Ist billiger, als Wassersteuer zu zahlen.«
»Aber wie viele Menschen könnte der Mond auf diese Art am Leben erhalten?«
»Äh. Nicht viele. Aber wie viele Menschen braucht der Mond eigentlich? Ich habe mich sozusagen eingegraben.«
Diese Wortwahl mutete sie auch seltsam an. Dieser Eremit war ihr überhaupt ein Rätsel.
Sie befragte ihn über die Kondensstreifen, die sie gesehen hatte und wieso sie gerade an diesem Ort
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