Das Multiversum 2 Raum
half; sie waren nun auf sich gestellt. Aber das war nicht weiter schlimm, denn sie wusste, dass ihre Kinder stark waren, autark und einfallsreich.
Ein paar würden natürlich sterben. Aber die meisten würden überleben, sich eingraben und auf den nächsten Kometenregen warten.
Sie ruhte wieder in sich selbst und hing ihren Gedanken nach, die sich in geologischen Zeiträumen entwickelten. Wartete auf den Regen, darauf, 340
dass mehr Kometen aus dem Staub entstanden und in den Himmel sprangen.
■
Xenia flog allein in einem automatisierten Gleiter zum Meer der Sehnsucht auf der Rückseite. Der Flug war samtweich und die Landung unmerklich.
Sie streifte den Spinnennetz-Anzug über, überprüfte ihn und betrat die kleine flexible Luftschleuse des Gleiters. Sie wartete auf das Zischen der entweichenden Luft, öffnete mit klopfendem Herzen die Luke und trat auf die Oberfläche des Mondes.
Eine kleine Staubwolke aus uraltem pulverisiertem Gestein wirbelte auf. Der Himmel war schwarz – außer einem zarten weißen Schleier, den sie im Sonnenlicht glühen sah. Das waren Eiskristalle, die in der dünnen Rest-Atmosphäre des Kometenaufpralls schwebten. Zirruswolken auf dem Mond: Geister eines toten Kometen. Die Oberfläche des Mare glich einem richtigen Meer mit ineinander fließenden, sanft gewellten Kurven.
Und dort standen zwei große, schlanke Kegel nebeneinander – geometrisch perfekte Körper. Sie warfen lange Schatten im schräg einfallenden Sonnenlicht. Xenia vermochte nicht zu sagen, wie weit sie entfernt oder wie groß sie waren, weil diese Landschaft keine optischen Vergleichsmaßstäbe hatte. Sie standen nur als krasse Anomalien im Gelände.
Sie schauderte und lief los.
Sie erreichte eine Stelle, wo der Regolith geharkt war. Sie hielt inne und blieb auf unbehandeltem Boden stehen.
Die ›Harke‹ hatte eine Reihe paralleler Furchen mit einer Tiefe von vielleicht sechs bis acht Zentimetern und in einem Abstand von ein paar Zentimetern gezogen. Als ob jemand den Boden ge-341
kämmt hätte. Beim Blick nach links und rechts setzte dieses Muster mit den scharfen Linien und der perfekten Geometrie sich ins Unendliche fort. Und wenn sie nach vorn schaute, erstreckten die Linien sich bis zum Horizont, ohne in ihrer Präzision beeinträchtigt zu werden.
Diese beiden Kegel sahen aus wie Termitenbauten. Im fast indirekten Sonnenlicht wirkten sie beinahe ästhetisch. Sie sah, dass die Furchen im Boden sich um die Kegel herumzogen wie ein Strom, der sich um geometrische Inseln teilt.
»Danke, dass Sie den Garten respektieren.«
Sie zuckte beim plötzlichen Klang der Stimme zusammen und drehte sich um.
Eine Person stand dort – Mann oder Frau? Sie entschied sich für einen Mann. Er war kleiner und schlanker als sie und mit einem schäbigen, oft geflickten Anzug bekleidet.
Er verneigte sich. »Sumimasen. Ich wollte Sie nicht erschrecken.«
»Takomi?«
»Und Sie sind Xenia Makarova.«
»Woher wissen Sie das denn?«
Ein leichtes Achselzucken. »Ich lebe zwar allein, bin aber nicht isoliert. Nur Sie haben Informationen über die Mond-Blumen gesucht und gesammelt.«
»Welche Blumen?«
Er kam auf sie zu. »Das ist mein Garten«, sagte er.
»Ein Zen-Garten.«
»Sie haben verstanden. Gut. Dies ist ein kare sansui, ein wasserloser Flussgarten.«
»Sind Sie ein Mönch?«
»Ich bin ein Gärtner.«
Sie ließ sich das durch den Kopf gehen. »Der Mond war doch schon ein großer Zen-Garten, ehe die Menschen hierher kamen – ein Garten aus Gestein und Erdreich.«
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»Sie sind weise.«
»Ist das der Grund, weshalb Sie hierher gekommen sind? Weshalb Sie allein hier leben?«
»Vielleicht. Ich ziehe die Stille und Einsamkeit des Mondes der Hektik der menschlichen Welt vor. Sie sind Russin.«
»Meine Vorfahren waren Russen.«
»Dann sind Sie hier auch allein. Ein paar von Ihren Leuten leben auf dem Mars.«
»Das hat man mir gesagt. Sie reagieren aber nicht auf meine Signale.«
»Nein«, sagte er. »Sie sprechen mit überhaupt niemandem. Nach dem Ansturm der Gaijin sind wir Menschen in verstreute Stämme zerfallen.«
Ansturm. Diese Wort hatte einen archaischen Klang, mehr als sie erwartet hätte. Flüchtig wurde sie an jemand anders erinnert, an einen anderen zurückgezogenen Japaner.
Sie deutete auf die Furchen. »Ich weiß, dass die Grate Flüsse sym-bolisieren. Sind das Berge? Steigen sie aus den Wolken oder dem Meer? Oder versinken sie?«
»Spielt das eine Rolle? Die Kosmologen sagen uns, dass es viele
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