Das Multiversum 3 Ursprung
haben.
325
Er nahm das Bambusrohr gründlicher in Augenschein. Das eine Ende war mit einem Holzstopfen verschlossen, und an einem Lederriemen hing ein weiterer Stopfen, den Joshua nach einigem Probieren ins offene Ende des Rohrs zu stecken und es damit zu verschließen vermochte. Joshuas Leute trugen das Wasser in den Händen, manchmal auch in geflochtenen Blättern oder ausgehöhlten Früchten. Obwohl sie dazu durchaus in der Lage gewesen wä-
ren, waren sie bisher nicht auf die Idee gekommen, so etwas wie die Bambusflasche des Eiferers herzustellen.
Mary beugte sich derweil über den Eiferer und musterte seine Kleidung. Joshua sah, dass sie aus fein gegerbtem Leder gefertigt war. Das Leder war stark verändert worden: Es war mit Schnör-keln, Zickzack-Linien und Kreuzen verziert und mit einem weißen Mineral gefärbt. Die Kanten der verschiedenen Teile hatte man durchstochen und Ranken durch die Löcher gezogen, um die Kleidungsstücke zusammenzuhalten. Mary berührte mit plumpen Fingern die Nähte und Säume; etwas Derartiges hatte sie noch nie gesehen.
Joshua gefielen die Muster auf dem Leder überhaupt nicht. Er hatte ähnliche Muster schon an anderen Artefakten der Eiferer gesehen. Die Muster stießen an die Grenzen von Joshuas intellektuel-ler Kapazität; sie waren da und doch nicht da und flitzten wie Geister durch die Kammern seines Bewusstseins.
Dann fanden Marys tastende Finger etwas, das an einer Schnur um den Hals des Manns hing. Es war eigentlich nur ein Stück Knochen, das aber feiner gearbeitet war als Abels bestes Werkzeug.
Joshua begutachtete den Knochen. Plötzlich sprang ein Mann aus der Schnitzerei: Mit verzerrtem Gesicht, ausgestreckten Händen und einer aufgerissenen Brust, in der man das Herz sah.
Joshua schrie auf. Er packte den Knochen, zerrte so fest daran, dass die Schnur um den Hals des Skinnies riss und warf ihn ins Gestrüpp.
326
Der Skinny erwachte mit einem schluckenden Schnarchen. Er setzte sich ruckartig auf, wobei der Hut ihm vom Kopf fiel. Beim Anblick der beiden massigen Hams hob er die Hände zum Himmel und schrie: »O Himmel, hilf mir! Bei Gottes Wunden, hilf mir!«
Mary schaute auch gen Himmel, um zu sehen, mit wem er da sprach. Aber es war natürlich niemand da. Die Skinny- Leute waren dem Wahnsinn verfallen: Sie redeten mit dem Himmel, den Bäumen, den Mustern auf ihren Kleidern und Ornamenten, als ob diese Dinge Leute wären, was sie aber nicht waren.
Also setzte Mary sich auf die Brust des Eiferers und drückte ihn auf den Boden. Er keuchte unter ihrem Gewicht. »Aufhören Himmel reden! Aufhören!«
Der bärtige Eiferer heulte auf.
Sie schlug ihm ins Gesicht. Der Kopf des Eiferers wurde zur Seite gerissen, und sein Körper erschlaffte.
Mary wich zurück. »Tot?«
Joshua beugte sich zögernd über ihn. Der Eiferer hatte sich in die Hose gemacht, wahrscheinlich als Mary auf ihn draufgehüpft war; dünner schleimiger Urin tröpfelte aus dem Hosenbein. Aber die Brust hob und senkte sich gleichmäßig. »Nix tot.«
»Tot machen?«, fragte Mary und machte große Augen unter den Brauenwülsten.
Joshua verzog das Gesicht. »Schlechtes Fleisch. Lassen's für die Bären.«
»Ja«, sagte Mary zweifelnd. »Lassen's für die Bären.«
Sie wischten sich den Schmutz des Eiferers an einer Handvoll Blättern ab. Dann drehten sie sich um und gingen in nördlicher Richtung weiter.
Nach einer Weile trat Joshua vorsichtig auf eine Lichtung.
327
Die Bäume in diesem Bereich waren entlaubt und geknickt. Als er nach Westen schaute, sah er, dass eine breite Schneise durch den Wald geschlagen war.
Und im Osten, am Ende dieser Schneise, war der Samen aus dem Himmel.
Er schaute auf das klobige Gebilde am Ende der breiten Spur, wobei er widerstreitende Gefühle der Aufregung und Furcht verspürte. Es war ein schwarzweißer Hügel, der halb von abgerisse-nem Laubwerk verdeckt wurde. Er war von Resten aus blauer Haut umgeben – oder vielleicht war es auch keine Haut. Ein Fetzen wickelte sich um sein Bein; es war eine dünnere Membran als jedes Leder, das er bisher gesehen hatte. Es war so fremdartig, dass er es kaum als gegenständlich wahrnahm.
Mary wartete nervös am Waldrand. »Vorsicht«, sagte sie. »Eiferer.«
Joshua wusste, dass sie recht hatte. Er roch auch den Rauch ihrer Feuerstätten und das Bratenfleisch. Das Lager der Eiferer befand sich in nächster Nähe.
Aber die Verlockung des Himmelssamens war unwiderstehlich.
Er ging am Rand der Lichtung entlang, wobei er
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