»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
zwei bis drei Tage wöchentlich, gelegentlich auch an Wochenenden und bis tief in die Nacht. Ich fuhr anfangs am Abend zurück nach Westberlin, was Kohl schlucken musste, bis Willy fand, man könne den Hokuspokus auch übertreiben. Danach genossen wir im Kronprinzenpalais Unter den Linden nicht nur eine hinreißende Aussicht auf die Stadt, sondern auch den Blick über das Brandenburger Tor nach Westen. Der Widerschein der Lichtreklamen am nächtlichen Himmel musste hier im Osten ähnliche Vorstellungen auslösen, wie wir sie nach Kriegsende mit der Schweiz verbanden: hell, reich und ohne Probleme. Wenn Ulrich Sahm, der Sohn des letzten demokratisch gewählten Oberbürgermeisters der Stadt, und ich ein paar Schritte über die Linden schlenderten, fanden wir, Berlin stünde uns als Hauptstadt gut zu Gesicht. Ich fühlte mich hier zu Hause, während der aus Thüringen stammende Kohl ein Zugereister war.
In den Verhandlungen zeigte sich die DDR kooperativ, bis wir zu dem Punkt kamen, den Missbrauch des Transits definieren zu müssen. Durften ihn Springer oder Strauß benutzen? Oder jene, die nach Auffassung der DDR das Land illegal verlassen hatten? Kein Staat verzichte darauf, einen Fahnenflüchtigen festzunehmen, entrüstete sich Kohl. Die Vertreter der Westmächte waren der Ansicht, Kriegsverbrecher auf den Transitwegen könne man der DDR nicht zumuten. Es dauerte lange, ehe wir mühsam als Ergebnis formulierten: Wer in den Transit hineinkommt, kommt auch wieder heraus. Wer nicht zurückgewiesen wird, kann ungehindert reisen. Einen Deserteur würden die Behörden der DDR erst gar nicht hineinlassen. Etwas später gewährten sie sogar »Republikflüchtigen« freien Transit. Solange unser Abkommen funktionierte, also bis zur deutschen Einheit, mussten die Vier Mächte nicht ein einziges Mal angerufen werden, um einen Streit zwischen den beiden deutschen Regierungen zu schlichten.
Wir tagten abwechselnd im Haus der Ministerien und im Kanzleramt und feilschten wie die Teppichhändler, wie hoch die pauschale Abgeltung der Transitgebühren zu sein habe, damit niemand mehr angehalten, kontrolliert und zur Kasse gebeten wurde. Wir einigten uns auf jährlich 234,9 Millionen D-Mark. Kohl behielt recht, dass die Verkehrszahlen nach oben schnellen würden: Günter Gaus musste schon 400 Millionen, Helmut Kohl 860 Millionen D-Mark zusagen.
Während einer Besprechung mit Michael Kohl und Sahm in Bonn wurde mir die Meldung hereingereicht, Brandt sei der Friedensnobelpreis zugesprochen worden. Er hatte Jean Monnet vorgeschlagen. Nachdem mir das Gewicht der Meldung bewusst geworden war, wollte ich dem Freund gratulieren. Die Kabinettsmitglieder hatten sich im Kanzleramt versammelt. Schiller sprach ein paar ehrende Worte, Willy stand ihnen gegenüber. Zu spät und durch die falsche Tür kommend, stand ich im Rücken von Willy, der unaufhörlich mit dem Daumen seine vier Finger zählte. Im Kanzlerbüro umarmte er mich: »An dem Preis hast du deinen Anteil. Du musst mit nach Oslo kommen.«
Die parallel zu den Transitgesprächen stattfindenden schwierigen Sonderverhandlungen zwischen dem Westberliner Senat und der DDR, auch über Besuchsmöglichkeiten von Westberlinern »in die angrenzenden Gebiete«, mussten zumindest koordiniert werden. Am Tag der Nobelpreisverleihung, dem 10. Dezember, erkundigten sich die norwegischen Freunde in Oslo, ob am nächsten Tag in Berlin paraphiert werden könne. Beim Abendessen dann die erlösende Mitteilung: Senat zehn Uhr. Ich erreichte Kohl und verabredete mich für elf Uhr mit ihm. Willy gratulierte erleichtert. Am nächsten Morgen mit der Luftwaffe nach Schönefeld. Paraphierung im Haus der Ministerien. In Westberlin Pressekonferenz mit dem Regierenden Bürgermeister Schütz. Rückfahrt nach Ostberlin. Die Crew der Luftwaffe war begeistert: Sie durfte in Zivil unsere fremde Hauptstadt besichtigen. Flug nach Bonn, Pressekonferenz, im Hubschrauber nach Köln-Wahn, Flug nach Stockholm, Fahrt ins Hotel und im Smoking pünktlich eine Minute vor zwanzig Uhr zum Galadinner für den Bundeskanzler. Der 11. Dezember 1971 war wirklich ausgefüllt.
Michael Kohl und ich erprobten und genossen unseren persönlichen »Wandel durch Annäherung«. Uns war klar, dass wir zum ersten Mal seit dem Krieg eine Rechtsgrundlage für den zivilen Verkehr zwischen Westdeutschland und Westberlin geschaffen hatten. Ich empfand es als Skandal, dass die westliche Seite das jahrzehntelang nicht ein einziges Mal gefordert hatte.
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