»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
einer deutschen Führungsrolle selbst im kleinsten Kreis nie aus. Der amerikanische Botschafter Ken Rush war da unbefangener: »Es geht vor allen Dingen um Ihre Interessen. Und da brauchen wir die Führung durch den Kanzler.«
Eine wirkliche Erleichterung war, dass Falin Anfang Mai 1971 als Botschafter an den Rhein kam. Unsere Zusammenkünfte fanden abwechselnd in der amerikanischen und der sowjetischen Residenz statt. Die Anfahrt der beiden Botschafter im Kanzleramt wäre zu auffällig gewesen. Nur einmal konnte ich mich in der Dienstvilla des Bundesbevollmächtigten in der Dahlemer Pücklerstraße revanchieren. Das hatte die CIA bemerkt und Rush am nächsten Morgen alarmiert, weil Falin beim Bundesbevollmächtigten gewesen sei. Der antwortete »Ich auch«, aber als Freund warnte er mich: »Egon, sei vorsichtig, du wirst überwacht.«
Wir waren uns der Verantwortung bewusst, dass wir die schwierigen Texte, die ich in deutscher Sprache vorlegte, auf Englisch zu verhandeln hatten, was weder Falin noch ich perfekt beherrschten. Rush konnte genauso wenig Russisch wie ich, und sein Deutsch verbesserte sich zwar im Laufe der Wochen, erreichte aber nie das Niveau Falins. Der Amerikaner brachte für jede deutsche Vokabel sofort zahlreiche Übersetzungen, die hilfreich sein sollten, von denen aber Falin und ich wussten, dass sie, vergangenheitsbeladen, in Bonn oder Moskau oder vor allem in Washington unannehmbar wären. Wir machten uns also gegenseitig auf Klippen aufmerksam und erlebten, wie das Vertrauen wuchs. Bald sprachen wir uns mit Vornamen an und sprangen vom englischen zum deutschen »Du«.
Das Verhältnis zwischen Westberlin und der Bundesrepublik zu definieren, erwies sich als schwierig. Die Forderung einer »Selbständigen Einheit Westberlin« gaben die Sowjets zwar auf, aber Berlin nach der Formulierung des Grundgesetzes als Land der Bundesrepublik zu bezeichnen, war für sie indiskutabel. Keiner unserer Vorschläge wurde in Moskau gebilligt. Sanne durchforstete alte Unterlagen und fand tatsächlich, dass die Drei Mächte (noch ohne Frankreich) noch vor Ende des Krieges entschieden hatten, Berlin solle »kein konstitutiver Teil« eines neuen Staates werden. Ken formulierte das für die Zukunft: »Bleibt ein nichtkonstitutiver Teil der Bundesrepublik.« Falin dachte an seinen Minister und ergänzte: »… und wird auch nicht von ihr regiert.« Ich dachte an das Bundesverfassungsgericht: »… und wird auch weiterhin nicht von ihr regiert.« Was wir vereinbarten, wurde von Amerikanern und Sowjets durch Botschaftsräte auf den Tisch der Vier Mächte gebracht.
Verschiedene Ebenen mussten gleichzeitig bedient werden: der interne Kern mit Ken und Valentin, die verdeckten Kanäle nach Washington und Moskau, die Abstimmungen mit dem Berliner Senat und den Parteien in Bonn, nicht zu vergessen mit der DDR. Da gab es unterschiedliche Interessen, Leidenschaften, knapp vermiedene Pannen und Aufregungen, die Brandt »Petitessen« nannte. Das alles ist Geschichte. In meiner Erinnerung lebt sein Drängen, wir sollten uns beeilen. Er habe keine Lust, dauernd schwindeln zu müssen auf die Fragen, wo ich denn gerade sei. Außerdem schimpfte er: »Diese verdammten Großmächte sollen gefälligst nicht so viele Geheimnisse machen«, was mich amüsierte, denn auf die vertrauliche Bitte Henrys hin half er der Nixon-Administration, indem er sich in einem Interview gegen die Reduzierung amerikanischer Truppen aussprach. An Breschnew schrieb er, dass er trotz aller Angriffe der Opposition durchhalten werde, und wies darauf hin, wie wichtig es für ihn sei, den Westberlinern Bundespässe ausstellen zu können.
Inzwischen war Ulbricht durch Honecker abgelöst worden. Falin informierte, der neue Mann werde »für Moskau ein leichterer Partner«, könne für die innerdeutschen Verhandlungen aber schwieriger werden. Außerdem war die zweite Begegnung des Kanzlers mit Breschnew vorzubereiten. Beide wollten auf der Krim für drei Tage im September das aufregende Thema der konventionellen Rüstungsreduktion besprechen.
Es fiel mir zu spät ein, dass unser Abkommen in den drei Sprachen Englisch, Französisch und Russisch gültig werden würde, aber auch eine deutsche Fassung brauchte, die für beide deutschen Staaten verbindlich wäre. Eine kleine deutsch-deutsche Arbeitsgruppe stellte fast hundert Unterschiede zwischen der Ost- und der Westübersetzung fest. Ganz unfröhlich verschoben die Vier die Paraphierung, um nicht hinterher dauernd
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