»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
Wir stimmten gemeinsam die Briefe unserer Regierungen ab, durch die den jeweiligen Verbündeten das Ergebnis mitgeteilt wurde, damit sie das Ganze in Kraft setzen konnten. Während wir die Briefe an die Vier formulierten, mit denen die beiden deutschen Staaten ihre Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen beantragten, lächelten wir uns verständnisvoll zu, weil bei allen Unterschieden eben beide Staaten nicht souverän wurden, sondern anerkannten, dass die unkündbaren Rechte der Vier Mächte weiter galten. Es überraschte mich aber nicht, dass die Besiegten gar über die Sieger »mitbestimmen können«, wie es im amerikanischen Bestätigungsbrief formuliert wurde.
Als es Weihnachten 1971 Verzögerungen bei der Besuchsregelung zwischen West- und Ostberlin gab, erklärte ich Kohl, dass die Regierung der DDR dafür nicht verantwortlich sei. Kohl übermittelte, das habe Honecker überzeugt, dass ich hart, aber fair sei. Leo bestätigte diese Äußerung Honeckers gegenüber Moskau, was für die Zukunft wichtig werden sollte. Ich war glücklich, dass die Insel Westberlin näher ans Festland gerückt war und seine Bewohner von nun an frei von Schikanen reisen konnten. Brandt hatte sein Versprechen eingelöst, von Bonn aus mehr für Berlin leisten zu können.
Vor allem war uns beiden bewusst: Wir hatten einen Markstein in der Nachkriegsgeschichte gesetzt. Über wichtige Fragen in Deutschland konnten die Vier Mächte nicht mehr ohne die beiden deutschen Regierungen entscheiden. Das Modell Vier-plus-Zwei war geboren, aus dem zwanzig Jahre später Zwei-plus-Vier wurde. Kohl und ich stimmten überein, dass die Vier erst wieder bei einem Friedensvertrag unentbehrlich werden würden. Wir waren nicht mehr bloße Objekte anderer und konnten uns auf unsere Interessen konzentrieren. Kurz: Wir hatten uns »eingearbeitet«. So kam ich mit Kohl auch überein, den Kalten Krieg zwischen Bundeswehr und NVA einzustellen: Soldatensender, an der Grenze aufgestellte Lautsprecher und Luftballons mit Flugblättern gab es ab dem 1. Juli 1972 nicht mehr – ohne jede schriftliche Vereinbarung. Beide Seiten hielten sich daran.
Nach dem Gesellenstück des Transitabkommens, das am 17. Dezember 1971 paraphiert wurde, verabredeten wir uns zur Fortsetzung, der Ausarbeitung eines Verkehrsvertrages, für den 20. Januar 1972. Brandt kommentierte: »Mit unserem Anteil an der Einheit können wir ganz zufrieden sein.« Der Visionär hatte das Ziel unseres Weges schon im Blick.
Alles oder nichts
Es ist wohl eine Gnade, dass es den Menschen versagt ist, ihre Zukunft vorauszusehen. Die Freiheit zu planen findet ihre unüberwindbare Grenze schon darin, auch nur den nächsten Tag zu bestimmen. Die Klugheit der nächsten Generation ist kindlich, im Rückblick auf die unrevidierbare Vergangenheit die Fehler zu sehen, die sie selbst immer neu macht. Es bleibt ein Fluch der Natur, dem Menschen zu versagen, seine Erfahrungen zu vererben.
Brandt hatte in seinen Harvard-Vorlesungen 1962 die notwendige Koexistenz zwischen Ost und West als »Zwang zum Wagnis« bezeichnet. Das Jahr 1972 sollte für ihn ein solcher »Zwang zum Wagnis« werden. Auf die Behauptung der Kanzlerschaft gegen das konstruktive Misstrauensvotum folgte der Verlust der Mehrheit, auf den Triumph des Wahlsiegs die persönliche Niederlage. Diese Herausforderungen konnte nur bestehen, wer im Getümmel des Kampfes nicht die Orientierung verlor und die Kraft bewies, unbeirrt seiner Überzeugung zu folgen. Es wurde ein Jahr, in dem der deutsche Bundeskanzler im Mittelpunkt internationaler Sorgen stand, von Washington bis Moskau, Honecker eingeschlossen, ob er sich behaupten würde und ob man ihm helfen könne.
Am Anfang des Schicksalsjahres stand das Projekt des ersten ratifizierungsbedürftigen Vertrages zwischen den beiden deutschen Staaten. Der Verkehrsvertrag sollte die Reisemöglichkeiten für alle Deutschen erleichtern, einschließlich der Westberliner. Wir sahen ihn als Modell, die DDR als Staat, aber mit besonderen Beziehungen zur Bundesrepublik zu behandeln. Gleichzeitig kamen Zweifel auf, weil die Mehrheit im Bundestag bröckelte, ob die Bundesregierung überhaupt noch imstande sei, die Ratifizierung des Moskauer und des Warschauer Vertrages zu schaffen. Je näher die Abstimmung im Bundestag über das von der Opposition eingebrachte Misstrauensvotum rückte, umso mehr veränderte der noch nicht einmal abgeschlossene Verkehrsvertrag seinen politischen Charakter: Könnte er angesichts der zu
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