»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
richtigen Zusammenstoß. Gromyko erklärte, über Berlin hätten die Vier Mächte entschieden. Die Bundesrepublik habe damit nichts zu tun, und es gehöre auch nicht ins Kommuniqué dieses Besuchs. Meine Antwort: »Ohne Berlin wird es kein Kommuniqué geben«, erzeugte eisiges Schweigen, bis Falin die Situation rettete, indem er anregte, er könne es ja mit mir versuchen. Das grummelnde Einverständnis hatte dann das eigentlich lächerliche Ergebnis der »strikten Einhaltung und vollen Anwendung« des Vier-Mächte-Abkommens. Alle waren am nächsten Morgen damit einverstanden, und ich bekam eine Vorstellung davon, was ein salomonisches Urteil ist.
Am Abend gab Brandt in seiner Residenz ein Essen für beide Delegationen. Es wurde ganz still, als der Generalsekretär, im Krieg Politkommissar der Roten Armee, und der Oberleutnant der Wehrmacht Helmut Schmidt von den Kämpfen und einer Feuerpause in Russland berichteten und sich herausstellte, dass sie sich am gleichen Frontabschnitt gegenübergelegen hatten. Die Bewegung war Leonid Iljitsch anzusehen. Keine zwei Völker haben sich tiefere Wunden geschlagen. Furcht und Achtung haben sich erhalten.
Beim Abschied auf dem Flughafen legte Breschnew seinen Arm um meine Schulter und fragte, warum ich so unzufrieden aussehe. Die Gespräche über die europäische Sicherheit seien unzulänglich gewesen, erwiderte ich. Er bestätigte das; aber ich solle nicht so pessimistisch sein. Alles werde gut werden.
Vier Tage später stellte die bayerische Landesregierung beim Bundesverfassungsgericht den Antrag auf Einstweilige Verfügung gegen den Grundlagenvertrag mit dem Ziel, ihn zu verbieten. In der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe wurde ich erst ruhig, als Kopf und Zunge wieder wie gewohnt parierten. Nach der einstimmigen Entscheidung gegen Bayern traten dann endlich alle Verträge in Kraft.
Seit Ende der fünfziger Jahre hatte sich die Praxis entwickelt, über Anwälte und mit Hilfe der Evangelischen Kirche Ausreisewillige in der Bundesrepublik aufzunehmen und die DDR mit Geld zu entschädigen. Keine der beiden Regierungen war darauf stolz. Die westdeutschen Medien waren informiert, berichteten aber im Interesse des »Freikaufs« zwanzig Jahre lang nicht darüber. Abgewickelt wurden diese Fälle über Wolfgang Vogel, den Vertrauensanwalt der DDR.
Im Gespräch am Rande der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages hatte mir der DDR-Außenminister erklärt: »Mit dem Anwaltskanal kann man aufhören. Es gibt ja künftig konsularische Abteilungen.« Das entsprach meiner Auffassung. Stattdessen stellte Ostberlin als unerwartetes Neujahrsgeschenk alle Ausreisen ein und schuf damit die »Kofferfälle« – Menschen, die auf die bereits genehmigte Ausreise warteten. Ich hatte zwar davor gewarnt, sich der Euphorie der deutsch-deutschen Flitterwochen hinzugeben, aber nicht damit gerechnet, dass der graue Alltag so schnell beginnen würde.
Von Brandt autorisiert, hatte ich gegenüber Kohl diese für beide Seiten unwürdige Praxis angesprochen. Diese Art von Menschenhandel müsse beendet und auf die zwischen Staaten übliche Ebene gehoben werden, unter Wahrung der beiderseitigen Interessen. Kohl hatte dafür keine Kompetenz und schlug nach Rücksprache in Berlin vor, das Politbüro-Mitglied Paul Verner würde mich empfangen. Nachdem ich Verner meine Vorstellungen dargelegt hatte, erklärte er sich für überzeugt. Ich könne das dem Bundeskanzler berichten. Die Einzelheiten würde Kohl mit mir vereinbaren.
In Bonn gratulierte der Chef fröhlich zu dem Erfolg. Als er Wehner, der später dazukam, von der guten Nachricht unterrichtete, explodierte der: Das sei schrecklich. Er prophezeite Stillstand. Alles würde blockiert, und die »Kofferfälle« würden zunehmen. Noch zwei Tage später bestätigte Kohl, er könne die Einzelheiten mit mir verhandeln, »entsprechend Ihrem Gespräch mit dem Genossen Verner«. Willy: »Na also. Es geht doch!« Erst einen Tag vor unserem Termin sagte Kohl ohne Begründung ab. Wehner hatte nur wenige Tage gebraucht, um die drohende Übereinkunft zu torpedieren.
Die Routine lief weiter. Ich hatte das Gebäude unserer neu zu schaffenden Ständigen Vertretung in der Hannoverschen Straße ausgesucht und Günter Gaus überredet, dort als stilbildender Eisbrecher zu amtieren. Das gelang allerdings erst, als Willy ihm versicherte, wie wichtig die Aufgabe und sein Rat im Kanzleramt sein würden. Aus Ostberlin hörten wir, dass Gromyko die Verhandlungen über die
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