»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
Einrichtung der Ständigen Vertretung behinderte. Moskaus Intervention kostete uns eine Verzögerung von einem Jahr und zeigte, dass die DDR selbst in einer so winzigen Frage nicht souverän war. Wir mussten aber weiterhin so tun, als wäre sie es.
Wehner
Zur Vorgeschichte gehört ein Gespräch zwischen Brandt, Wehner und mir. Die Kofferfälle waren auch während meines Arbeitsausfalls nicht gelöst worden. Wehner berichtete von einer kurzfristigen Einladung Honeckers, um die Ausreisefrage zu erörtern. Er habe daran gedacht, Wolfgang Mischnick (Dresdner wie er) mitzunehmen, den Fraktionsvorsitzenden der FDP, um das politische Risiko zu begrenzen. Er habe die Sorge, dass da leicht ein Unfall zu organisieren sei. Ich äußerte, wenn ihn die Nummer eins einlade, sei er so sicher wie in Abrahams Schoß. Seine erschreckende Reaktion mit gehobener und abgehackter Stimme: »Das versteht ihr nicht! Da gibt es Sachen, die nicht zu vergessen und nicht zu vergeben sind.« Das war ungespielte physische Angst. Wir besprachen dann alle technischen Vorbereitungen und waren so arglos, nicht zu beachten, dass die Einladung an Mischnick von seinem liberaldemokratischen Kollegen aus Ostberlin rechtzeitig organisiert worden war. Auch Willy hatte das »ihr« registriert. Das waren die sozialdemokratischen Naivlinge gegenüber den Kommunisten. »Mit ›ihr‹ hat er auch dich gemeint«, resümierte Willy, »und die Distanz zu uns.«
Die Kofferfälle wurden gelöst. Wehner hatte das am 30. Mai im Vier-Augen-Gespräch mit Honecker vereinbart, der Stasi-Chef Erich Mielke sofort anwies, die Ausreisesperre aufzuheben. Mischnick wurde erst einen Tag später einbezogen. Einen Bericht, was sonst noch besprochen wurde, erhielten wir nicht. Die offiziellen Verhandlungen mit Kohl zeigten jedenfalls keinerlei Veränderung. Aber im Sommer kamen über den Kanal aus Moskau mehrfach Hinweise, dass Wehner bei seinen DDR-Kontakten kritische und abfällige Bemerkungen über Brandt gemacht habe. Brandt ließ für diese Information seinen Dank übermitteln. Unsere Arglosigkeit war und bleibt unentschuldbar.
Während der Großen Koalition hatte Wehner als Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen das Thema »menschliche Erleichterungen«, also die über Anwalt Wolfgang Vogel abgewickelten bezahlten Ausreisen, betreut. Mitglied der Bundesregierung zu sein, war für ihn die sichtbarste Vergebung seiner Vergangenheit durch die Union gewesen. Diese Versöhnung war zu Ende, als er 1969 Fraktionsvorsitzender der SPD in der sozialliberalen Koalition wurde. Die Zuständigkeit für Ausreisen blieb im Ministerium, so dass er hinfort für den gesamten Komplex keine Rolle mehr spielte.
Ende Oktober 1973 fuhr Wehner mit einer Bundestagsdelegation nach Moskau – ein spätes Geschenk der Brandt’schen Entspannungspolitik. Wir waren uns im Kanzleramt einig, dass diese Reise dem »Onkel« helfen würde, sich mit seiner Vergangenheit auszusöhnen. Sie gipfelte in dem Besuch bei seinem alten Chef, Boris Ponomarjow. Dort muss er sich noch schlimmer als gegenüber den Journalisten geäußert haben, denn der Kanal meldete: »Das ist ein Verräter.« Die Agenturen hatten getickert: »Brandt führt nicht. Der Herr badet gerne lau. Der Regierung fehlt ein Kopf.« Brandt erhielt die Meldung ausgerechnet nach der Rede, die er anlässlich des Beitritts der Bundesrepublik zu den Vereinten Nationen in New York gehalten hatte. Er brach die Reise ab.
Willy bebte vor Wut. »Jetzt ist es genug. Er oder ich.« Horst Grabert reagierte rasch und bestellte ein Flugzeug. Er wollte Wehner in Moskau abholen, um mit ihm und seiner Rücktrittserklärung wieder in Bonn zu landen. Ich riet Willy zu einem persönlichen Gespräch mit Wehner. Er würde die Kraftprobe zwar in jedem Fall gewinnen, aber seine Energie würde für andere Fragen dringender gebraucht. Also wurde das Flugzeug abbestellt. Das Gespräch endete mit der persönlichen Bitte Wehners: »Lass es uns noch mal versuchen.« Bis heute belastet mich die später gefestigte Erkenntnis, dem Freund einen falschen Rat gegeben zu haben. Einen Vorwurf hat mir Willy nie gemacht.
*
Willy Brandt war für mich ein guter Mensch, der ein Beispiel dafür bleibt, dass Politik den Charakter nicht verderben muss. Herbert Wehner war ein machtorientierter Mensch, den das Gewissen nicht drückte, wenn er Menschen wie Schachfiguren verschob. Brandt verschmolz seine persönlichen Fähigkeiten mit seinen visionären politischen Vorstellungen für die
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