»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
Veränderung der Gesellschaft. Wehner manipulierte in gigantischer Selbstüberschätzung, um seine Position zu festigen und das durchzusetzen, was er für nötig befand. Der eine fühlte sich stark im Dienst für sein Volk. Der andere, beladen mit seiner Vergangenheit, konnte seine Überlegenheit nur aus der zweiten Reihe und ohne die Würde eines Amtes erhalten. Brandt beneidete niemanden, es sei denn um seine akademische Bildung. Wehner beneidete Brandt, der lachen und zeigen konnte, dass Politik nicht nur ernst und brutal sein muss. Für Brandt war Wehner unheimlich, aber nicht bedrohlich. Für Wehner war Brandt schwach.
Die charakterlichen und biographischen Unterschiede dieser beiden Führungspersönlichkeiten waren so groß, dass sie unausweichlich wie in einem Shakespeare’schen Drama aufeinanderstoßen mussten. In Demokratien stirbt man nicht durch Gift oder Dolch. Aber es gibt Sieger und Verlierer. Zunächst siegte Wehner, weil Brandt dessen abgrundtiefe Ruchlosigkeit für unvorstellbar hielt. Dann ging Wehner zugrunde, als ihm seine stärkste Waffe, das Gehirn, langsam und grausam nicht mehr gehorchte.
Im Oktober 1973 hatte Willy der halbherzigen Entschuldigung Wehners für seinen Moskau-Auftritt vertraut und war auf seine Bitte eingegangen, es noch einmal miteinander zu versuchen. Nur sechs Wochen später brach Wehner sein Versprechen und schrieb Papiere, in denen er deutschlandpolitische Vorschläge für Honecker formulierte. Sie stellten seinen persönlichen Grundlagenvertrag mit der Nummer eins der DDR dar und verlegten das politische Zentrum aus dem Kanzleramt auf die künftige Entscheidungsebene Wehner/Honecker. Die damit verbundenen Beleidigungen Brandts hat der Freund nie erfahren. Ihm blieb auch das Wissen erspart, dass Wehner sich in die Hand Honeckers begab, indem er seine Niederschrift sein »politisches Testament« nannte, weil »mein Schicksal als politisch im Vordergrund wirkender Mann von anderen besiegelt« werden könnte, falls sie das Papier entsprechend verwendeten.
In den »Gedanken« genannten Aufzeichnungen kommt Brandt gar nicht mehr vor. Und in der gekürzten Zusammenstellung, die Wehner 1974 für Helmut Schmidt anfertigte, fehlt die Bezeichnung »politisches Testament«. Das Ganze war ein fast bewundernswertes Kunstwerk der Intrige, mit dem sich Wehner dem neuen Bundeskanzler als Mann präsentierte, der alle Fäden in der Hand hält. Allerdings konnte Schmidt dem auch entnehmen, dass Wehner Brandt mehrfach hintergangen und über Kontakte zu Honecker nicht informiert hatte. Damit begab Wehner sich auch in die Hand Schmidts und festigte so die Bindungen zum neuen Kanzler. Der ganze Vorgang war erst zu erfahren, nachdem Greta Wehner, seine Stieftochter und spätere Frau, die Dokumente zwanzig Jahre später veröffentlicht hatte. Ohne Kenntnis davon hatten Brandt und ich mehrfach darüber gesprochen, wann und wie begonnen hatte, was als eine Art Hochverrat endete. Für uns gab es den »Onkel« nicht mehr.
Schon als Journalist in Bonn hatte ich Wehner näher kennengelernt. Er überreichte mir damals ein Exemplar seiner »Beichte« zum Moskauer Exil, die er auch Kurt Schumacher gegeben hatte. Der als Kommunistenfresser bekannte SPD-Vorsitzende hatte den ehemaligen KPD- und Komintern-Funktionär damals von dem Verdacht freigesprochen, noch immer heimlich den alten Überzeugungen anzuhängen. Auch über fünfzig Jahre später kann ich mir nicht erklären, was Wehner sich davon versprach, mir seine Bekenntnisse zu übergeben. Womöglich glaubte er, ich stünde im Dienste der Amerikaner und würde die Schrift weitergeben, um ihn bei meinen Auftraggebern zu entlasten. Falls er so dachte, spräche das nicht für seine Menschenkenntnis.
Brandt und ich schlossen nicht aus, dass Wehner, selbst vom Tode bedroht, in Moskau Menschen ans Messer geliefert hatte. Wir waren uns einig: Nur wer bereit ist, in einer solchen Situation den Weg des Märtyrers zu gehen, hat das Recht, jemanden wie Wehner zu kritisieren. Außerdem vertrauten wir Schumachers Urteil, dass Wehners Wandel zum Sozialdemokraten glaubwürdig war.
In Berlin hatte Brandt bereits 1960 von dem Beginn seiner inneren Distanz zu Wehner erzählt. Der hatte ihm mit Blick auf den erfolglosen SPD-Vorsitzenden Erich Ollenhauer erklärt: »Der muss weg.« Falls Wehner das als Test für Brandts Machtwillen verstanden hatte, hieß das Ergebnis: Er ist zu weich. Meine Bemerkung, Wehner handle nach seinem Kalkül, »wie er’s gelernt hat«,
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