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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Bahr
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erfuhr die Rüge, ich solle nicht so vorlaut sein.
    Mit seiner Bundestagsrede vom 30. Juni 1960 hatte Wehner die SPD auf den Boden der von Adenauer geschlossenen Verträge gestellt. Brandt fand das unerhört, denn »es entspricht nicht der Beschlusslage der Partei«. Der ein Jahr zuvor verabschiedete »Deutschlandplan« war Makulatur geworden. »Noch schlimmer: Er hat nicht mit mir darüber gesprochen.« Das SPD-Präsidium hatte in der Tat nicht über diesen weitreichenden Schritt beraten. »Am schlimmsten: Er hat recht.« Mit dieser epochemachenden Rede hatte Wehner die Voraussetzungen für die Große Koalition geschaffen. Sie bewies, dass die SPD nicht nur auf Länderebene regierungsfähig war. Darüber hinaus hat er nie eigene Konzeptionen entwickelt, weder zur deutschen Einheit noch zu anderen Fragen von Bedeutung.
    Wehner hatte geführt, und Brandt war gefolgt. Das sollte ihm nicht noch einmal passieren. Seinem späteren Zugriff aufs Kanzleramt fügte sich Wehner. Die neue Koalition empfand Brandt als Befreiung von ihm. Wehner dürfte sie als Verlust von Ansehen und Einfluss gesehen haben. Ich glaube nicht, dass er Willy diese Niederlage je vergaß. Es spricht für eine gewisse Lethargie, wenn Brandt hinnahm, dass die Regieanweisungen für sein zweites Kabinett in der Aktentasche Wehners »vergessen« wurden und auch Helmut Schmidt nie erreichten, für den sie ebenfalls bestimmt waren.
    Brandt und ich waren uns einig: Vor Abschluss des Grundlagenvertrags konnte es noch keinen operativen Kontakt Wehners zu Honecker gegeben haben. Der hätte mich desavouieren können. Auch ohne die »Nation« in der Präambel, die Honecker so schwergefallen war, hätte es den Vertrag gegeben. Gleiches gilt für die Ausreisen. Vor Wehners erstem Treffen mit Honecker war kein operativer Einfluss spürbar. Erst danach arbeitete er mit der anderen Seite – nicht für sie, sondern für sich. Sein Konzept lief darauf hinaus, mit Honecker dafür zu sorgen, dass die deutsche Teilung unbegrenzt erhalten blieb. Insgesamt lautete die Schlussfolgerung: Wehners erste Begegnung mit Honecker am 30. Mai 1973 war der Anfang dessen, was sich zwischen den beiden bis zum Rücktritt Brandts hinter seinem Rücken abspielte.
    Es bleibt erstaunlich, wie wenig die mehrfachen Hinweise aus Moskau auf negative Äußerungen Wehners über Brandt bei uns auslösten. Das musste in kommunistischer Denkart nach einem Machtkampf um die Spitze in Bonn aussehen. »Da ist wohl zunächst nichts zu machen«, befand Brandt. Hans-Jürgen Wischnewski erzählte mir, er sei in einer Berliner Wohnung Wehners Ohrenzeuge eines Anrufs von Honecker geworden, und zeigte sich besorgt: »Du, nach dem, wie der Onkel gesprochen hat, weiß ich nicht, wo dessen Loyalität liegt.«
    *
    Den Herbst empfand ich als mühsam und unerfreulich. Für das neue Umweltbundesamt hatte der Innenminister an eine Reihe von Städten, aber nicht an Berlin gedacht. Eingedenk der »strikten Einhaltung und vollen Anwendung« des Vier-Mächte-Abkommens wollte ich dieses Amt nach Berlin bringen. Voraussetzung war natürlich die vorherige Abstimmung mit Moskau und Ostberlin. Ich hatte nicht bedacht, dass Genscher unseren entsprechenden Kabinettsbeschluss sofort öffentlich verkünden würde. Wie vorauszusehen, reagierte Ostberlin mit flammender Empörung. Moskau war zurückhaltender. Breschnew ließ verständnisvoll ausrichten: »Etwas zu früher Vorschuss.« Angesichts der zeitgleichen rücksichtslosen Durchsetzung der ÖTV-Forderung nach einer zweistelligen Lohnerhöhung murmelte Brandt: »Von Moskau, sogar aus Ostberlin kann man mehr Unterstützung bekommen als von den eigenen Leuten.« Aber er kämpfte nicht wirklich. Das Bundesamt kam trotzdem nach Berlin. Doch es machte keinen Spaß mehr.
    Eine erfreuliche Aufhellung brachte die schnelle Entscheidung des Kanzlers, Alexander Solschenizyn aufzunehmen, ungeachtet der sowjetischen Ankündigung, ihm dann die Staatsbürgerschaft abzuerkennen. Wir machten uns einen Spaß, ihn ähnlich wie die Russen ohne Formalitäten und Kontrollen direkt am Flughafen abzuholen und zu Heinrich Böll zu fahren. Die Botschaft besorgte dann den Transport seiner Unterlagen, ohne die er nicht arbeitsfähig gewesen wäre.
    Die erste Ölpreisexplosion überraschte. Im Kabinett war Willy so unvorsichtig, den Wirtschaftsminister Hans Friderichs zu fragen, wie eigentlich der Ölpreis zustande komme. Der wiederum war so unvorsichtig zu antworten, das wisse er nicht, aber er werde in der

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