»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
Kontrahenten in Münstereifel gibt es keine Zeugen. Eine klare Unterstützung hat Brandt von Wehner nicht gehört. Dieses für ihn negative Ergebnis führte ihn in der Nacht zu dem Entschluss, zurückzutreten. Den Brief an den Bundespräsidenten schrieb er zu Hause und las ihn Rut vor. Ihre Reaktion: »Das ist richtig. Einer muss die Verantwortung tragen.« Das erste Wort am 6. Mai in seinem Amtszimmer: »Das ist vorbei.«
Am Ende einer Besprechung zwischen Brandt, Wehner und mir sagte Willy, wir sollten schon mal vorgehen zur Fraktion. Unterwegs dachte ich, ohne den wäre der Freund noch im Amt. Plötzlich berührte mich Wehner am Arm. »Wir müssen jetzt eng zusammenarbeiten. Überlege, es geht um unsere Sache.« Mir kam es vor, als blickte ich in einen bodenlosen Abgrund. Wollte er mich zum Komplizen seiner Ruchlosigkeit machen? Als Willy den Fraktionssaal betrat, begrüßte ihn Wehner mit dem obligaten Blumenstrauß und schrie in den Saal: »Wir alle lieben ihn.« Ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten über diese Gemeinheit und Heuchelei. Erst zwanzig Jahre später erfuhr ich, welche Lügen und Verleumdungen Wehner bei Honecker über mich verbreitet hatte. Das hatte er bestimmt nicht vergessen, als er mich zur engen Zusammenarbeit für »unsere Sache« einlud.
Nach der Entscheidung gab es eine Reihe von Leuten, die Willy vorgeblich oder ehrlich umstimmen wollten. Ich wusste, dass eine Ära zu Ende ging. Meine Liebe zum Freund überwog die Verbundenheit mit dem Staat. Ich riet ihm, beim Rücktritt zu bleiben. Jetzt war er Herr der Entscheidung. Andernfalls würde er gejagt, vertrieben und in wenigen Wochen zerstört werden. Er würde keine Chance haben, sich zu erholen. Die Befreiung von dem, was er zwei Jahre später »Selbstkasteiung« genannt hat, stand gegen den Gedanken, Wehner habe gewonnen. Schon wenige Tage nach seinem Rücktritt nahm er sich vor, wenn irgend möglich herauszubekommen, welche Rolle Wehner wirklich gespielt hatte. Das zeigen die »Notizen zum Fall G.«.
Bereits Ende Mai begann Willy mit seinen handschriftlichen Notizen, die er später ergänzte. Sie dokumentieren auf mehr als vierzig Seiten seine Fixierung, Klarheit darüber zu gewinnen, welche Elemente zu dem unwiderruflichen Ende seiner Kanzlerschaft geführt hatten. In der Verhaftung Guillaumes sah er nur das auslösende Moment nach einer Reihe vorausgegangener Fehler. Selbstkritisch räumte er sein Versäumnis ein, die groteske Zumutung Genschers nicht zurückgewiesen zu haben, die den Bundeskanzler ein knappes Jahr vor Guillaumes Festnahme zum Lockvogel werden ließ. Den Verdacht gegen jemanden, dessen Name mit »G« anfängt, konnte er schon deshalb nicht ernst nehmen, weil ihm monatelang nichts Neues dazu berichtet wurde. Der unverständliche Fehler der Sicherheitsbehörden, die Überwachung des Verdächtigen zu unterlassen, addierte sich mit dem Fehler Guillaumes, sich bei seiner Festnahme als »Offizier der NVA« zu offenbaren. Das Beweismaterial gegen ihn hätte für ein Verfahren nicht ausgereicht.
Der zentrale Komplex der »Notizen« umkreist den Verdacht, ob Wehner schon vor seinem Himmelfahrtstreffen mit Honecker über Guillaume informiert war, was möglich, aber nicht beweisbar ist. Ganz unwahrscheinlich muss erscheinen, dass Wehner und Honecker, die bis zur Enttarnung Guillaumes am 24. April und während der folgenden zwei Wochen bis zu Brandts Rücktritt mehrfach kommuniziert hatten, dabei den Spion nicht erwähnten. Jede Lebenserfahrung spricht dagegen. Offen ist die Frage, seit wann Genscher, Nollau und Wehner den Namen »Guillaume« kannten, ohne ihn Brandt zu nennen.
Breschnew ließ am Tag nach dem Sturz Slawa bei mir anrufen. Der Generalsekretär empfand es fast als persönliche Beleidigung, dass Honecker den Spion nach der Verbesserung der Beziehungen zwischen dem Kreml und Bonn nicht entfernt hatte. Er würde das nicht verzeihen. Er habe noch von seiner Wohnung aus auf offener Leitung Honecker beschimpft. Brandts Rücktritt sei auch für ihn ein schwerer Schlag. Er werde die europäische Politik schwieriger machen. Doch könne er sich nicht vorstellen, dass man das erworbene Kapital an Vertrauen einfach wegschmeiße. Willy antwortete in einem kurzen Brief, dass er sich in jedem Augenblick dieser bitteren Situation »Ihrer guten Gedanken bewusst« gewesen sei und man weiterhin voneinander hören werde.
Eine Woche darauf bestätigte Breschnew, »dass die neue Situation an den guten Beziehungen zwischen uns
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