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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Bahr
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beiden nichts ändern soll«. Nachdem beide Länder eine gemeinsame Sprache für viele internationale Probleme gefunden hätten, hoffe er, dass die neue Bundesregierung von den gleichen Wertmaßstäben getragen werde. Brandt beendete den Briefwechsel fürs Erste mit der Versicherung, er werde nicht resignieren und alles tun, damit sein Nachfolger die kaum übertragbaren guten Erfahrungen selbst machen könne. Der Rücktritt »war – leider – nötig«. Dies ist die erste schriftliche Selbstbeurteilung Brandts nach dem Sturz. Seine zwischen Mai und September 1974 entstandenen »Notizen zum Fall G.« umkreisen aber auch das Gegenteil: dass der Rücktritt unnötig und objektiv vermeidbar war.
    Brandt hat zeit seines Lebens die Auffassung vertreten, dass Geschichte kein zwangsläufiges Ergebnis kennt, sondern von handelnden Menschen abhängt. Dass er statt der durchaus vorhandenen Auswege die Haltung des letztverantwortlichen Bundeskanzlers wählte, konnte nur zum Rücktritt führen. Objektiv war er falsch, im Interesse des Landes unnötig und für die Geschicke Europas nicht nützlich.
    Wie lange den Selbstkritischen dieses Problem beschäftigte, merkte ich, als ich Jahre später einen Brief von Markus Wolf erhielt, dem Chef der DDR-Spionage. Darin schilderte er, dass er Honecker nie Vortrag zum Problem Guillaume habe halten dürfen. Das habe sich Mielke vorbehalten. Guillaume sei für ihn, Wolf, die größte Niederlage gewesen, die er tief bedauere. Im Anschreiben überließ er mir die Entscheidung, ob ich sein Bekenntnis an Brandt weiterleite. Willys Reaktion: »Das nützt mir nun auch nichts mehr.«
    Noch später – ich arbeitete schon als wissenschaftlicher Direktor am Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik – fragte Falin, der 1992 auf meine Einladung zwei Semester an dem Institut arbeitete und in einer Wohnung Augsteins untergekommen war, ob ich Markus Wolf treffen wolle. Ich wollte; schon um zu erfahren, ob Honecker von Guillaume gewusst hatte. »Das möchte ich auch wissen«, war Brandts Reaktion. Falin berichtete mir, dass von Stalin bis Gorbatschow (!) jeder Generalsekretär sich persönlich um Wege und Schicksale der Spitzenkundschafter gekümmert habe. Weil der Mielke-Apparat vom KGB gezeugt und gesäugt worden war, folgerte ich, dass Honecker log, wenn er später abstritt, von Guillaume gewusst zu haben.
    Willy schloss seine »Notizen« mit der unvermittelten Hinzufügung: »Das Treffen in der Schorfheide Ende Mai 1973: Wehner, Honecker, Mischnick.« Er war auf der richtigen Fährte.
    Was Wolf mir erzählte, erfuhr Brandt nicht mehr: Guillaume hatte sich auf der Rückfahrt aus Norwegen, wohin er Willy als persönlicher Referent in den Urlaub begleitet und wo er Zugang zu geheimen Unterlagen gehabt hatte, von der Reisegruppe getrennt und den Koffer mit abgelichteten Dokumenten einem Kurier übergeben. Der fühlte sich beobachtet und schmiss den Koffer in den Rhein. Von den darin befindlichen Geheimnissen erfuhren Ostberlin und der Rest der Welt erst vom Oberlandesgericht Düsseldorf im Prozess gegen den schweigsamen Spion. Ein verrückter Witz: Unwissentlicher Verrat durch ein Gericht.
    *
    Willy erlitt Ende 1978 einen Kreislaufkollaps und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Wie Rut berichtete, hatte der Befund den Arzt vermuten lassen, er habe schon im Zusammenhang mit seiner Amerikareise Anfang November einen verschleppten Infarkt erlitten. Mit Einfühlungsvermögen und Diskretion meisterte das Krankenhaus die logistischen Probleme, die sich aus der engen Freundschaft Willys zu Brigitte Seebacher ergaben. Mit ihr fuhr er anschließend nach Südfrankreich, um sich zu erholen. Dort traf ich ihn, schlanker und gebräunt. Bei einem Spaziergang gab er mir einen Brief an Rut zu lesen und bat mich, ihn ihr zu überbringen. Er wollte sich nicht scheiden lassen und erbat ihr Verständnis. Rut las, fragte, ob ich den Inhalt kenne, und erklärte nach meinem Ja unmittelbar, fest und entschieden: »Nein, ich werde mich scheiden lassen.«
    Schmidt und Brandt
    Zu Weihnachten 1974 schrieb mir Willy: »Dies war ein verdammt schwieriges Jahr, und Du bist einer der ganz wenigen, die in etwa wissen, was es für mich bedeutet hat – ganz weiß ich es wohl selbst noch nicht.«
    Der neue Kanzler war der jüngste in der Dreierkonstellation mit Brandt und Wehner. Keiner der drei mochte die Bezeichnung Troika, und das gewiss nicht nur, weil Dreierverhältnisse schwierig sind. Jeder von ihnen war eine

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