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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Bahr
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außenpolitische Themen sich vermischten und verschiedene Interessen aufeinandertrafen. Das waren nicht zufällig die unterschiedlichen Prioritäten des Parteivorsitzenden und des Kanzlers. Hinzu kam der Faktor des Koalitionspartners. Hans-Dietrich Genscher wollte der erste Außenminister sein, der auch von der jeweiligen Opposition unterstützt wird. Auch später in der Koalition mit der Union achtete er darauf. Uns gegenüber sprach er deshalb von der notwendigen »realistischen Entspannungspolitik«, als Partner der Union betonte er später die »Kontinuität der Entspannungspolitik«.
    Nach der Rückkehr des Kanzlers aus Saudi-Arabien im April 1981 wurde in kleinem Koalitionskreis erörtert, dass Schmidt sich im Wort fühle, den Saudis neben anderen Waffen auch unsere modernen Leopard-Panzer zu liefern. Genscher sagte nicht ja und nicht nein. Ich wies auf die Beschlusslage der SPD hin, die Waffenlieferungen in Spannungsgebiete ablehnte. Genscher schlug vor, die Sache zurückzustellen, bis die Freunde von der SPD das intern geklärt hätten. Ein Meisterstück: Schonend für den Kanzler wurde die Besprechung beendet und das Thema beerdigt. Genscher zeigte nicht nur eine taktische Überlegenheit gegenüber Schmidt, sondern auch eine große diplomatische Begabung, die dem Land später im Vorfeld der Einheit zugutekam. Er sprach sich früh dafür aus, Gorbatschow zu vertrauen und zu unterstützen, was im Westen als »Genscherismus« verunglimpft wurde. Der Faktor Genscher wog schwerer als seine Partei.
    In der Frage der Sicherheit ergab sich eine ähnliche Konstellation. Die Überlegenheit Schmidts in strategischen Fragen erkannte Brandt neidlos an. Als Schmidt Anfang 1979 von einem informellen Gipfeltreffen aus Guadeloupe zurückkam und in kleiner Runde den dort besprochenen NATO-Doppelbeschluss erläuterte, achtete der skeptische Parteivorsitzende darauf, dass die Vorbedingung ehrlicher Verhandlungen mit der Sowjetunion nicht vergessen werden dürfe, ehe der Kanzler die Zustimmung zur Aufstellung amerikanischer Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden mitteilte. Es steht auf einem anderen Blatt, dass Genscher im Herbst 1982 so tat, als hätte die SPD dem Kanzler in Sachen Nachrüstung die Gefolgschaft verweigert, während er in Wirklichkeit schon mit seinem Duzfreund Helmut Kohl über die neue Koalition einig war. Schmidt hat Genscher immer als unerfreuliche Hinterlassenschaft Brandts empfunden.
    Brandt konnte neben dem Parteivorsitz auch gleichzeitig Kanzler sein; Schmidt wusste, dass er als Parteivorsitzender den Laden nicht zusammenhalten konnte. Er bestätigte das in meiner Gegenwart, als Willy ihn im neuen Kanzleramt besuchte. Seine Brandt zugetragenen Mäkeleien über dessen zu lockere Führung stellten den Vorsitzenden mehr als einmal vor die Frage, auch seinerseits die Disziplin zu lockern. Brandt wurde geliebt; Schmidt wurde respektiert.
    Als Bundesgeschäftsführer hatte ich ein Programm-Papier auf die Kernforderung der SPD verdichtet: Jeder Mensch solle seine Fähigkeiten in Würde entfalten können. Damit zufrieden, las ich die Tickermeldung, die NATO habe über die Einführung einer Neutronenbombe entschieden. Die würde die Menschen ausschalten, aber die Nutzung von Brücken und Gebäuden weiter ermöglichen. Das war nun das Gegenteil von Menschenwürde. Für den Vorwärts schrieb ich einen wütenden Artikel über diese »Perversion des Denkens« und zeigte ihn Brandt. Der empfahl, darüber eine Nacht zu schlafen. Nach der Veröffentlichung rief Bundespräsident Scheel an und riet, bei meiner Meinung zu bleiben, auch wenn ich mich damit nicht durchsetzen würde. Das musste dem Kanzler Ungelegenheiten bringen. Doch dann verwarf Präsident Carter die geplanten Neutronenwaffen wieder, was Schmidts kritischer Haltung ihm gegenüber zusätzliche Argumente einbrachte. Die »Perversion des Denkens« hat mir der Kanzler nie vorgeworfen.
    Als Mitglied im Kabinett stellte ich Unterschiede zwischen Schmidt und Brandt fest, was ihren Führungsstil betraf. Schmidt führte, indem er seine Position zu einzelnen Themen verkündete, und war nur bedingt zufrieden, wenn er sie, auch dank der Eleganz Genschers, modifizieren musste. Die sozialdemokratischen Kabinettsmitglieder fühlten sich in die Rolle von Staatssekretären versetzt, während ihre Kollegen von der FDP als verantwortliche Minister behandelt wurden. Die Sitzungen wurden kürzer, und wie Brandt fragte Schmidt am Ende, ob jemand noch einen guten Witz kenne.

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