»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
Erinnerungen arbeitete. Da erhielt er einen Brief von Schmidt, den er mir zu lesen gab. »Der will seinen Frieden mit dir machen«, schätzte ich. Das wollte er wirklich. Lange nach Willys Tod bat die Ebert-Stiftung den inzwischen mehr als Neunzigjährigen um eine Rede über sein Verhältnis zu Brandt. Dazu habe er nicht mehr die Kraft, antwortete Schmidt, aber er sei bereit, darüber mit einem Erwachsenen zu diskutieren, und nannte meinen Namen. Die Veranstaltung in Lübeck wurde zu einer erfrischenden Geschichtsstunde, das große Thema des NATO-Doppelbeschlusses wurde nicht unter den Tisch gekehrt. »We agree to disagree« hieß die Zusammenfassung. Wir können uns unverändert in die Augen blicken.
Als Willy die Augen geschlossen hatte, wurde Helmut Schmidt, bei aller Achtung vor Helmut Kohl, der große »Elder Statesman« in Deutschland, respektiert und nun auch geliebt.
TEIL 4 – GEWISSHEITEN
Ein neuer Beginn
Nach der Ernennung zum Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit gab mir der neue Kanzler die großzügige Weisung: »Du kannst machen, was du willst. Aber mach mir keinen Ärger.« Der Entwicklungsminister, wie er kurz genannt wurde, gehörte von Amts wegen zum Gouverneursrat der Weltbank. Dessen Chef, Robert McNamara, hatte ich zuletzt in den sechziger Jahren mit Willy im Pentagon erlebt. Der damalige Verteidigungsminister hatte uns optimistisch über die amerikanische Strategie in Vietnam unterrichtet. Jetzt kümmerte sich der Gewandelte glaubwürdig um die Hebung des Lebensstandards der Menschen in den ärmsten Entwicklungsländern. Ich traf ihn am Rande einer Weltbanktagung. Nachdem er von unvergesslichen Wanderungen im Himalaya erzählt hatte, kam er zu seiner Idee: Er plane eine unabhängige Kommission der UN, die ein Konzept für den Ausweg aus der Misere, mindestens eine Orientierung für dieses gefährliche Weltproblem erarbeiten sollte. Der beste Mann für den Vorsitz sei Willy Brandt. Ob er wohl dazu bereit wäre?
Nach meiner Rückkehr nach Bonn reagierte Willy sehr zurückhaltend, weil sein Sachverstand nicht reiche. Diese Bedenken konnte ich mit dem Hinweis ausräumen, das gesamte Wissen meines Ministeriums würde ihm zur Verfügung stehen. Ausschlaggebend für seine Zusage waren wohl zwei Überlegungen, die sich ergänzten. Zum einen war es nicht verlockend, nur als SPD-Chef dem Kanzler den Rücken freizuhalten, und zum anderen war die Aussicht attraktiv, in der Dritten Welt herumzureisen und neue Probleme und Menschen kennenzulernen.
Die Nord-Süd-Kommission machte aus Brandt einen überzeugten Anwalt der Dritten Welt. Die Mitglieder mussten die Konfrontation der Interessen ihrer Vertreter aus Nord und Süd aushalten. Der Westen war unter anderem durch den vormaligen britischen Premier Edward Heath und Olof Palme aus Schweden vertreten. Auch die Amerikaner beteiligten sich, während sich die Sowjetunion entzog. Brandt erreichte über seinen Kontakt zu Breschnew, dass das berühmte Moskauer Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen wenigstens Sachverständige seiner Kommission empfing. Die sowjetischen Wissenschaftler zeigten sich mit der internationalen Diskussion voll vertraut und ließen ziemlich offen ihr Bedauern erkennen, dass ihre Regierung immer noch den modernen Erkenntnissen nachhinke. Erst in die 1980 eingesetzte Palme-Kommission, die sich mit Sicherheit und Abrüstung befasste, entsandte Moskau Teilnehmer.
Bei den Sitzungen der Nord-Süd-Kommission, an denen ich als Gast teilnahm, verlangten die Repräsentanten aus dem Süden angesichts der immensen Rüstungsausgaben Priorität für den Kampf gegen die Armut. Es kostete viel Überzeugungskraft, bevor sie akzeptierten, dass die Verhinderung des Dritten Weltkriegs Priorität haben müsse. Nur wenn das gelänge, könne sich der Norden mit voller Kraft der Überwindung der Armut zuwenden. Ich schäme mich noch immer, dass nach dem Ende des Kalten Krieges sich weder die reichen Industrie- noch die Schwellenländer an ihre Versprechungen erinnert haben.
Alle Mitglieder der Brandt-Kommission, wie sie bald genannt wurde, verband der Respekt für ihren Vorsitzenden, für seine Autorität und Weitsicht. Der von Brandt 1980 vorgelegte Bericht »Das Überleben sichern« behandelte globale Probleme wie Hunger, Bevölkerungswachstum, Energie, Rohstoffe, Handel, Währung, Investitionen und Organisationen – natürlich unter der Voraussetzung des Friedens und der notwendigen Solidarität zwischen Arm und
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