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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Bahr
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ist. Wir haben volles Vertrauen, dass im Interesse des Westens keine Fehler gemacht werden.« Meinen Bericht über das Gespräch unterbrach Schmidt engagiert und laut: »Falsch! Du hättest Henry nach den Einzelheiten fragen sollen. Wir sind daran interessiert, sogar vital.« Brandt schüttelte den Kopf: Er bezweifelte deutschen Einfluss auf einem Gebiet, über das nur Amerikaner und Russen entschieden. Er sah die Grenzen unserer Möglichkeiten und unserer Macht.
    Dabei erkannte er durchaus an, dass die Gespräche Schmidts mit den militärischen Spitzen in Moskau 1980 dazu geführt hatten, Bonn als Partner in strategischen Fragen ernst zu nehmen. Aber letztlich hätten eben Washington und Moskau entschieden. Wir wären Objekte ihrer Entscheidung, in beiden deutschen Staaten Raketen aufzustellen, und ebenso ihrer späteren Entscheidung, sie wieder wegzuschaffen. Diese abweichende Auffassung hinderte Brandt nicht, die Enttäuschung des Kanzlers zu teilen, dass er weder informiert noch konsultiert worden war, als der amerikanische und der sowjetische Unterhändler Paul Nitze und Juli Kwizinski auf ihrem berühmten Waldspaziergang in der Nähe von Genf ein Verhandlungsresultat erreichten, das für Schmidt durchaus annehmbar war.
    Brandt teilte auch die Einstellung Schmidts, im Ernstfall der Bundeswehr seinen letzten Befehl zu geben: Befehlsverweigerung gegenüber den Amerikanern, die Atomwaffen einzusetzen, für die mit Lance-Raketen ausgerüstete deutsche Einheiten vorgesehen waren. Mit ihrer Reichweite bis Lübeck und Hamburg hätten sie zerstört, was verteidigt werden sollte. Er teilte Schmidts Haltung, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, also das Wohl des Landes höher zu stellen als das Wohl der NATO.
    Dennoch blieb der Parteivorsitzende in der Situation, auf der einen Seite den Kanzler zu stützen, auf der anderen Seite die Partei zusammenzuhalten und den Einfluss auf die Friedensbewegung nicht zu verlieren. Der Konflikt war programmiert, seit Schmidt mit seiner Beschränkung auf die Kanzlerschaft die Frage der Parteiperspektive Brandt überlassen hatte, gewollt oder ungewollt, gern oder ungern.
    Die Raketen hatten sich verselbständigt. Beide deutsche Staaten waren zu Geiseln von deren Eigentümern geworden. Die Pershings brauchten sieben Minuten bis Moskau, die in der DDR stationierten sowjetischen Raketen brauchten maximal zwei Minuten, um die amerikanischen vor ihrem Abschuss zu zerstören. Weder die Menschen noch die Technik durften einen Fehler machen. Schmidt konnte die Singularisierung der Bundesrepublik als Ziel nicht verhindern. Kwizinski hatte mir in Moskau bestätigt: »Sie können so viele Pershings stationieren, wie Sie wollen. Wir sind darauf vorbereitet, sie zu unterlaufen.« Wer zuerst auf den Knopf drückte, sei im Vorteil.
    Der Bundeskanzler hatte die deutsche Zustimmung zur Stationierung der Pershing-Raketen von erfolgreichen Verhandlungen abhängig gemacht und so den Druck auf Moskau und Washington aufrechterhalten. Meine Vermutung, die Amerikaner wollten gar kein positives Ergebnis erzielen, bestätigte im Nachhinein Strobe Talbott, vertraut mit der Materie und später stellvertretender Außenminister unter Bill Clinton, in seinem Buch »Raketenschach«. Sie wollten uns betrügen. Kohl ersparte ihnen den Betrug, indem er den deutschen Vorbehalt aufgab. Wir haben Glück gehabt.
    In der Raketenfrage fühlte ich mich im Wort gegenüber der Partei und der Bundesregierung, auch den Partnern in West und Ost: Meine Haltung hätte zu einer Ablehnung der Stationierung geführt. Die Raketen waren zu einer Gewissensfrage geworden; sie waren nicht mehr zu verhindern. Der Bundesgeschäftsführer konnte nicht das Gegenteil seiner Überzeugung verkünden. Ich trat Ende 1981 zurück und teilte dem Bundeskanzler mit, dass ich künftig »die politische Seite der Rüstungsbegrenzung zum Schwerpunkt machen werde, weil ich sie für eine schwere Frage der nächsten Jahre – übrigens auch für die Partei – halte.« Brandt versuchte nicht, mich umzustimmen. Er fragte, was ich denn nun machen werde. Meine Antwort: »Abrüstung« kommentierte er: »Damit bist du für den Rest deines Lebens beschäftigt.« Er behielt recht.
    Partner Amerika
    Trotz der Gemengelage ihrer unterschiedlichen Verantwortlichkeiten teilten Brandt und Schmidt die Auffassung: Ohne Amerika geht gar nichts. Beide wussten: Von der Luftbrücke über den 17. Juni 1953, die Ostverträge, das Vier-Mächte-Abkommen für Berlin und den

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