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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Bahr
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habe – obwohl er sie nicht vermisste. Brandt war viel zu intelligent, um nicht zu verstehen, dass die großen Länder außerhalb Europas gar nicht anders konnten, als ihren Interessen zu folgen. Die internationale Welt wünschte Europa alles Gute, glaubte aber nicht mehr daran, dass es seine seit Jahrzehnten beschworene Absicht verwirklichen würde.
    Darüber den Kopf zu schütteln verbot sich: Niemand konnte bestreiten, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit einen Traum wahr machte. Kriege zwischen den europäischen Staaten wurden aufgrund ihrer engen Verflechtung faktisch unmöglich. Diese größte Erfolgsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg verlangte die Übertragung von Teilen der nationalen Souveränität auf Europa. Das fiel nicht schwer, denn Sicherheit gegenüber der Bedrohung aus dem Osten garantierte Amerika mit der NATO. Nachdem de Gaulle 1969 aus dem Amt geschieden war und es grünes Licht für den Beitritt Englands, Norwegens, Dänemarks und Irlands gegeben hatte (was allein Willys Norweger durch Volksabstimmung ablehnten), traten am 1. Januar 1973 drei neue Mitglieder der EG bei. Brandt schöpfte Hoffnung, als Edward Heath, Mitglied seiner Nord-Süd-Kommission und der europageneigteste Konservative, den es in England je gegeben hat, an die Spitze der britischen Regierung trat. Nach seinem Scheitern waren wir nicht mehr übermäßig enttäuscht, als die folgenden Labour-Regierungen den Vorrang der Sonderbeziehungen zu den USA beibehielten.
    Mit dem friedlichen Ende der Sowjetunion schwand auch die militärische Bedrohung aus dem Osten. Nun hätte es eigentlich nahegelegen, die Übertragung nationaler Souveränität auf die EU fortzusetzen, zumal der Vertrag von Maastricht den Weg für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ebnete. Aber ohne die Gefahr aus dem Osten und in der Gewissheit der weiteren Präsenz Amerikas auf dem Kontinent glaubte eine Reihe europäischer Staaten, sich risikolos sogar den Luxus kleinerer Kriege leisten zu können. Maastricht wurde 1992 von zwölf Mitgliedsstaaten unterzeichnet, dem Todesjahr von Willy Brandt. Seine Bemühungen um Europa, das er so geliebt hatte, waren zu Ende.
    Eine gemeinsame Währung folgte zehn Jahre später, ohne England. Dem britischen Interesse folgend, wurde die Gemeinschaft erweitert, nicht vertieft. Inzwischen gibt es siebenundzwanzig Mitglieder, drei weitere klopfen an die Tür. Mit jedem neuen Mitglied wird sie schwerer regierbar.
    Amerika kann beruhigt sein: England garantiert Washington, statt mit einem europäischen Staatenbund von Gewicht mit vielen Ländern verhandeln zu können. Inzwischen wächst die Meinung, dass die Selbstbestimmung Europas nur in der Gruppe der Euroländer erreichbar ist, also ohne Großbritannien und weitere EU-Länder. Unbedingt aber muss das alte Schema der Ost-West-Spaltung überwunden und mindestens Polen, vielleicht auch Tschechien als Mitglied der Eurozone einbezogen werden. Wie Brandt die Entwicklung beurteilt hätte, enttäuscht oder pragmatisch, bleibt offen. Die ungelöste Spannung zwischen Euroland und EU konnte er nicht vorhersehen.
    Mahatma Gandhis Gewaltlosigkeit brachte dem indischen Kontinent die politische Unabhängigkeit von Großbritannien. Die Selbstbestimmung Europas besteht als Sicherheitsprotektorat Amerikas unverändert fort. Wenn es Washington und Moskau nicht gelingt, eine gemeinsame Regelung für die Raketenabwehr zu finden, könnte eine neue Aufrüstung in Europa, auch in Deutschland die Folge sein. Sie würde sogar das Ende der Entspannungspolitik bedeuten. Diese Dimension konnte Brandt nicht einmal erahnen.
    Erkenne dich selbst
    Mehr als einmal sind Aussprüche von Willy Brandt als orakelhaft bezeichnet worden, also auslegbar. »Erkenne dich selbst«, die Inschrift des Apollon-Tempels in Delphi, kann auch den Menschen Willy Brandt entschlüsseln.
    Wenn es eine Lehre gab, die ihm das Leben erteilte, dann die, dass er nicht befehlen konnte. Er fühlte sich frei, freier als das Land, in das er zurückkam. Dennoch musste er sich anpassen an Umstände, die stärker waren als er. Anpassung ist ein Erfolgsrezept in der Geschichte der Arten. Bis er Regierender Bürgermeister wurde, hatte Brandt diese Methode längst verinnerlicht. Er wollte überzeugen und vermisste es nicht einmal, dass die Berliner Verfassung ihm keine Richtlinienkompetenz gab. Durch Konsens zu gewinnen wurde seine Stärke, eine Führungseigenschaft, die er auch als Bundeskanzler bewies. Horst Ehmke fasste es

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