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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Bahr
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Grundlagenvertrag bis zur Schlussakte von Helsinki 1975 und zum aus guten Gründen anders genannten Friedensvertrag von 1991 wäre die Geschichte ohne Rückendeckung der USA anders verlaufen. Es muss offen bleiben, ob, wie und wann Deutschland ohne die Unterstützung der Vereinigten Staaten die uneingeschränkte Souveränität zurückerhalten hätte, die das Reich 1945 verloren hatte. Die Notwendigkeit der NATO, auch nach dem Ende des Kalten Krieges, sahen beide. Dass dabei amerikanisches Eigeninteresse nicht zu kurz kam, hatte schon für die Marshallplan-Hilfe gegolten.
    Auch in der Beurteilung der unvergleichlich engen atlantischen Bindungen mit ihren geschichtlichen und wirtschaftlichen Wurzeln und ähnlichem Wertekanon waren sich beide einig. Das Bündnis garantierte den Verbündeten die Organisation, Führung und Koordination der Sicherheit seiner Mitglieder nach außen und der Stabilität nach innen, falls Deutschland übermütig würde, was in dem mit den Buchstaben EU bezeichneten Durcheinander kaum zu befürchten war und ist.
    »Die NATO gehört nicht Amerika« – diese schnoddrige Definition Schmidts, in der sich der Anspruch auf Gleichberechtigung, auch ein Stück Emanzipation von Amerika ausdrückten, wäre Brandt nie über die Lippen gekommen. Nicht nur, weil sie völkerrechtlich korrekt, aber politisch falsch war, sondern vor allem, weil sie an der Realität nichts änderte. Dabei hatte er eine durchaus vergleichbare Grundhaltung, wenn er zum Beispiel erklärte: »In Europa hat die Bundesrepublik Verwandte, in Amerika Partner. Wer die Selbstbestimmung Europas will, kann sie nicht zur Disposition von Washington stellen. Amerika, das jahrzehntelange Kindermädchen Europas, sollte das verstehen.« Das entsprach der Formel von der »Europäisierung Europas«, die mein ältester Freund Peter Bender geprägt hatte. Aber ein Entweder-oder mit konfrontativem Beigeschmack, das die Wirklichkeit nicht aushebeln konnte, lag Brandts Wesen nicht. Seiner Weltanschauung entsprach nicht nur außenpolitisch ein Sowohl-als-auch. Er fühlte sich mit dieser Formel so sicher, dass ihre gelegentliche Verspottung ihn weder traf noch zweifeln ließ.
    Die Vorstellung, Brandts freundschaftliche Gefühle für Amerika wären unkritisch, anpasserisch und ungetrübt gewesen, ist völlig falsch. Ich war noch nie zuvor in New York gewesen, als meine ungehemmte Begeisterung für die Stadt ernste Dämpfer erhielt. Anfang der sechziger Jahre bummelten wir durch die Straßen rund ums Waldorf-Astoria, wo wir abgestiegen waren, als Brandt mir erläuterte, warum er sich unbehaglich fühlte: »Das ist Überheblichkeit und Arroganz, diese Wolkenkratzer. Es zeigt menschliche Vermessenheit. Wenn hier mal was passiert!« Er blieb immer in einer menschlichen Dimension.
    Robert McNamara hatte uns brillant erläutert, warum Amerika den Krieg in Vietnam gewinnen würde. Danach bemerkte ich zu Brandt, der amerikanische Verteidigungsminister erinnere mich an Walter Hallstein mit seiner Alleinvertretungsdoktrin gegenüber der DDR: Das Gebäude imponiert, bis man bemerkt, dass es an der falschen Stelle steht. Willy antwortete, wir hätten gerade ein Beispiel für die typisch amerikanische Überheblichkeit erhalten, aufgrund ihrer materiellen und technischen Überlegenheit Menschen zu unterschätzen, besonders wenn es sich um sogenannte »zurückgebliebene« Menschen aus Entwicklungsländern handelt. Wir waren uns einig: Amerika wird den Krieg in Vietnam verlieren. Offen blieb nur, wann und wie. Brandt zog eine Linie von Korea zur missglückten Operation in der Schweinebucht gegen Kuba und sah die doppelte psychologische Bürde für das sieggewohnte Land: Wie würde es mit Niederlagen umgehen und mit der Last, dass auch eine demokratische Weltmacht geschichtlich schuldig werden kann? Diese Erkenntnis führte ihn zu Hause zu der Haltung, jede amerikakritische Bemerkung zu unterlassen, so populär sie auch sei. »Einem Freund, der in Not ist, muss man helfen.« Das politische Washington hat diese Haltung durchaus registriert.
    Auf unseren Wegen durch New York bemerkte Willy die kalten, feindseligen Blicke, wenn ihm Farbige auf der Straße begegneten. Er kniff die Augen zusammen, als der Fahrer per Knopfdruck die Türen schloss, wenn wir durch Stadtviertel fuhren, in denen kein Weißer zu wohnen schien. Trotz der bewunderten Regenerationskraft des Landes schloss er Spaltungen zwischen farbigen und weißen Staaten nicht aus – eine Einschätzung, die er

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