»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
Washington und Moskau unersetzbar blieben. Diese geostrategische Überzeugung reichte über Jahrzehnte und konnte durch keine aktuellen Aufgeregtheiten ins Wanken gebracht werden, auch nicht durch die Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss zu Beginn der achtziger Jahre. Brandt hatte zu keinem Zeitpunkt die Sorge, dass die beiden Großen die Kontrolle über die Entwicklung verlieren könnten. Die Grundorientierung an den weltpolitischen Realitäten verlieh ihm eine souveräne Sicht.
Ein Beispiel: Der ehemalige Hochkommissar der USA in der Bundesrepublik, John McCloy, hatte Anfang der sechziger Jahre zu einem kleinen Abendessen eingeladen. De Gaulle hatte gerade England den Zutritt zur EWG verweigert und wollte die militärische Organisation des Bündnisses verlassen. McCloy drängte, die Deutschen müssten das verhindern, und drohte: »Wenn ihr das nicht macht, werden wir abziehen.« Brandt erwiderte kühl: »Das glaube ich nicht.«
Brandt sah sich beim Thema Sicherheit in einer abgehobenen, sogar überlegenen Position. »Für die Raketenzählerei, für Reichweiten oder Abschreckungstheorien hält man sich Verteidigungsminister und Experten.« Damit meinte er auch Schmidt und mich. »Wenn die relevant werden, ist das ein Zeichen, dass die Politik versagt hat. Die Politik muss dafür sorgen, dass deren Sorgen und Theorien nicht ausprobiert werden.« Das mag überheblich geklungen haben, erwies sich aber schließlich als richtig: Wir haben keinen Krieg erlebt. Es ist nur noch von begrenztem Wert, der Frage nachzugehen, inwieweit der militärisch-technische Komplex die Staaten auf gefährliche und kostspielige Umwege geführt hat. Wir sind in Europa immer gut damit gefahren, dass die politische Vernunft der militärischen den zweiten Rang zuwies.
Für politisch-strategische Fragen hatte Brandt immer Interesse. Das beste Beispiel dafür war sein Treffen mit Breschnew 1971 auf der Krim. Nach der Planierung des politischen Geländes durch den Moskauer Vertrag musste nun ein Weg gefunden werden, das Übermaß an konventionellen Waffen zu vermindern und dadurch für beide Seiten mehr Sicherheit zu erreichen, ohne eine Seite zu benachteiligen. Stundenlang suchten wir nach geeigneten Formulierungen, um unser Ziel zu erreichen. Der daraus resultierende Vertrag über konventionelle Abrüstung erhielt später die Bezeichnung MBFR – gegenseitig ausgewogene Reduktion. Er wäre im Dickicht der militärischen Bedenkenträger erstickt, hätte ihm Gorbatschow nicht doch noch zum Leben verholfen. Die Staaten des Warschauer Pakts befolgten ihn ebenfalls – auch noch, als es den Pakt schon nicht mehr gab. Er entsprach den Interessen aller Beteiligten.
Im Sommer 1981 brachte Brandt aus Moskau den Gedanken mit, eine Nulllösung auf beiden Seiten könnte alle relevanten amerikanischen und sowjetischen Raketen beseitigen, ohne die französischen und britischen einzubeziehen. Das wurde in Bonn als »irreal« verworfen. Als Ronald Reagan genau das dann mit Gorbatschow vereinbarte, gab es ungeteilte deutsche Zustimmung. Die politisch-strategische Weitsicht Brandts, auch nach seinem Sturz, blieb leider ungenutzt.
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Henry Kissinger hat Brandt und Schmidt als außergewöhnliche Persönlichkeiten bezeichnet. Ihre Ähnlichkeiten seien ebenso frappierend wie ihre Unterschiedlichkeiten. Als ich Brandt 1970 informierte, dass Schmidt gemeinsam mit seinem amerikanischen Kollegen Melvin Laird verhindert hatte, dass von der Ostsee bis zum Böhmerwald Hunderte amerikanischer Atomminen verlegt wurden, sagte er: »Eine Sorge weniger.« Und lobte, dass diese gute Tat nicht öffentlich geworden war; die Menschen sollten durch die atomare Bedrohung nicht unnötig beunruhigt werden. Später billigte er die Versuche, die Schmidt und ich unabhängig voneinander unternommen hatten, eine Landstationierung amerikanischer Raketen zu verhindern, indem wir auf die Ausrüstung amerikanischer U-Boote mit Cruise Missiles drängten. Die Amerikaner bezeichneten das als technisch unmöglich. Als dieses Verfahren einige Zeit nach der Entscheidung über die Landstationierung der neuen Mittelstreckenraketen möglich wurde, kamen wir uns getäuscht vor.
Bei einem Besuch Kissingers, der inzwischen Außenminister war, erkundigte ich mich nach dem Stand der Genfer Verhandlungen zur Begrenzung strategischer Waffen. Als Henry detailliert Auskunft gab, unterbrach ich ihn: »So viele Einzelheiten sind unnötig. Mich interessiert, ob und wann mit einem Ergebnis zu rechnen
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