»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
später relativierte. Bei aller Gewogenheit für diesen so widersprüchlichen Kontinent, der USA heißt, mit seinen zivilisatorischen Leistungen und großartigen Stiftungen auf der einen Seite und den schwer verständlichen Waffengesetzen und der Todesstrafe auf der anderen: Für den Europäer Brandt blieb das Land fremd. Er konnte sich nicht zu Hause fühlen. Doch unverändert blieb Amerika unersetzlich.
Eine Geliebte zum
Verzweifeln: Europa
Die erste außenpolitische Aktion des neuen Bundeskanzlers Willy Brandt hatte Europa gegolten. Genauer: Er war stolz darauf, im Dezember 1969 in Den Haag zusammen mit dem französischen Präsidenten Georges Pompidou und den vier anderen Regierungschefs grünes Licht für den lange von Frankreich blockierten Beitritt Englands zu den Europäischen Gemeinschaften vereinbart zu haben. Ohne das Mutterland der Demokratie – und ohne das skandinavische Element – konnte er sich Europa schwer vorstellen. Dass Frankreich sich mit England an seiner Seite wohler fühlen würde, wenn die Deutschen eine aktive Entspannungspolitik nach Osten begännen, beschwerte ihn nicht. Jahre später las ich in den Erinnerungen von George Kennan, er sei 1949 bei seiner Erkundungsreise nach Europa zu dem Ergebnis gekommen, dass alle Vorstellungen einer europäischen Gemeinschaft scheitern würden, die England unwiderruflich an den Kontinent binden wollten; die britischen Sonderbeziehungen zu den USA würden immer Priorität behalten. Anfang der achtziger Jahre machte ich Willy auf diese inzwischen vielfach bestätigte Voraussage Kennans aufmerksam. Seine Reaktion: »Das hättest du mir früher sagen müssen.«
Ahnen können hätten wir das schon bei einem Auftritt Brandts in London 1962, als ihm von dem europageneigtesten aller Vorsitzenden der Labour-Partei, Hugh Gaitskell, Gehör verschafft werden musste. Die von Brandt geäußerte Überzeugung, England gehöre zu Europa, hatte laute Unruhe ausgelöst. Gaitskell eilte zum Mikrofon und verlangte »Ruhe für unseren Gast aus Übersee«. Das war nicht witzig gemeint. Nicht nur bei dichtem Nebel über dem Kanal wurde Europa auf der Insel als fremder Kontinent empfunden – parteiübergreifend und dem allgemeinen Lebensgefühl entsprechend.
Im Februar 1970 fragte Gromyko nach einem Mittagessen plötzlich: »Wann muss man damit rechnen, dass Europa mit einer Stimme spricht?« Grund zu dieser Sorge hatte die EWG Moskau immerhin schon gegeben. Von meiner Antwort: »Wiedervorlage in zwanzig Jahren« und seiner misstrauischen Nachfrage: »Meinen Sie das ehrlich?« berichtete ich dem Kanzler zusammen mit der Versicherung, das glaubte ich wirklich. Seine Reaktion: »Du bist ein Defätist.« Er konnte sich nicht vorstellen, dass es so lange dauern würde. Natürlich glaubte er keine Sekunde, dass die deutsche Einheit schneller erreicht sein würde als eine internationale Handlungsfähigkeit Europas. Vierzig Jahre später kann noch immer niemand solide voraussagen, wann das oft beschlossene Ziel der Einstimmigkeit erreicht wird.
Als Willy mir einmal vorhielt, ich interessiere mich zu wenig für Europa, antwortete ich, in jeder der sechs Hauptstädte säßen mindestens sechs hochintelligente Menschen, die an diesem Thema arbeiteten; da könne es nicht schaden, wenn ich mich um Osteuropa kümmere.
Natürlich empfand Brandt eine tiefe Freude, dass die Entspannung Früchte trug, die Europa veränderten. Das hinderte ihn aber nicht daran, durch Druck von unten zu versuchen, Europa schneller flügge zu machen. In einer Kabinettssitzung überlegten wir wieder einmal, was geeignet sein könnte, um die nächste Sitzung des Europarats weniger belanglos, sondern interessant für die Menschen zu machen. Ich weiß nicht mehr, wer auf die Idee kam, europäische Wahlen vorzuschlagen. Das wirkte elektrisierend und begeisternd. Den Einwand, das europäische Parlament hätte gar keine Kompetenzen, wischte Brandt beiseite: »Ein Parlament nimmt sich die Rechte, die es braucht.« So kam es 1979 zu den ersten direkten Wahlen des Europäischen Parlaments. Brandt als Spitzenkandidat erlebte seinen Irrtum noch. Die europäische Einigung wurde ein langer Weg der Ernüchterung, der bis heute nicht beendet ist.
Die britische Politik bremste und sprang dann auf den Zug, um noch besser bremsen zu können; sie ging schließlich nach Brüssel, um besser kontrollieren zu können, und Maggie Thatcher verlangte »ihr Geld zurück«. Kissinger beklagte, dass er keine Telefonnummer Europas
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