Das Musterbuch (German Edition)
entsprungen.
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Von der piazza her kamen Geräusche eines Karrens. Andrea verliess seine Staffelei und ging zu einem Fenster, einem von dreien, die sich von seinem Atelier nach Osten ausrichteten. Von hier aus konnte er den Platz überblicken. Unten sah er ein Fuhrwerk mit Kisten, Matratzen und Staffeleien. Das musste das Gepäck der Bellini sein! Schon erreichten drei Reiter den Platz und orientierten sich in Richtung des Karrens. Andrea winkte den Ankommenden zu und rannte nach unten. Er wollte seine Maler-Kollegen persönlich empfangen."Jacopo, alter Freund, lass dich umarmen! Seid herzlich willkommen in meinem bescheidenen Heim." Er begrüsste auch die beiden Brüder, wobei sein Blick Giovanni lediglich streifte. "Ich habe euch bereits zwei Kammern einrichten lassen!" Der Palast, in dem er wohnte und der ihm zugleich als Atelier diente, war von innen viel grösser, als er von aussen schien. Vom Atelier aus konnte er die piazza della frutta und von einer kleinen Terrasse viele Gärten und Dächer der Stadt überblicken. "Herrlich ist es hier, so mitten in der Stadt und doch so ruhig gelegen!" Gentile Bellini fühlte sich gleich heimisch hier. "Vater, nimm du nur die Kammer mit der Tür zur Terrasse hin, ich werde mir mit meinem Bruder die camera degli sposi – die Hochzeitssuite teilen." Gentile war zum Scherzen aufgelegt. Noch bevor die Gesellen das Gepäck in die Räume gehievt hatten, nahm Giovanni schon seine Jacke mit dem Wunsch, sich die berühmte Universität Paduas anzuschauen. Da sein Vater und sein Bruder müde von der Reise waren, verliess er den Palazzo allein. Als er dabei durch das geräumige Atelier Mantegnas kam, streifte sein Blick das unfertige Werk auf der Staffelei im Zentrum des Raumes. War das nicht seine Schwester Nicolosia? Schon der erste Eindruck des Bildes verursachte ihm eine Gänsehaut….
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Nur einen Platz weiter, an der Via San Francesco gelegen, war die Universität von Padua. Berühmt war diese wegen ihrer Gelehrten im Fach Altertumsstudien wie Filelfo, Guarino, und Vittorino da Feltre. Hier also ist die ruhmreiche Stätte der Humanisten!
Giovanni gelangte weiter zur Basilica del Santo. Er wollte sich den berühmten Hochaltar des Donatello anschauen, dessen Reliefs - so sein Vater - in der Komposition von Gentile inspiriert worden waren. Zunächst aber verschlug ihm der Anblick des Condottiere Erasmo da’Narni, mit dem Spitznamen Gattamelata, als Reiterstandbild den Atem! Das Pferd mit den aufgeblähten Nüstern schien gleichwohl lebendiger als der eher vom Alter gezeichnete Condottiere. Giovanni musste an den siebzigjährigen Donatello denken, der jetzt, hochbetagt, in Florenz seine letzten Lebensjahre verbrachte. Und immer noch war er aktiv, so in San Lorenzo, wo er eine wundervolle dramatische Kreuzigungsszene geschaffen haben sollte.
Im Inneren der Kirche herrschte Stille. Nur ein paar Gläubige entzündeten Kerzen vor verschiedenen Altären. Der Hochaltar im Zentrum der Kirche war in der Tat ein Wunderwerk der plastischen Kunst, aber: Donatello war kein Maler, das liessen die Szenen aus dem Leben des Heiligen Antonius in sich unvereint wirken; die Figuren lebten mehr aus der Bewegung ihrer selbst heraus, denn aus einem Handlungszusammenhang.
Danach schlenderte Giovanni noch ziellos umher, bis er in einer taverna einkehrte. Er liess sich einen Becher voll vino rosso einschenken, trank dazu einen halben Krug Wasser aus und holte seinen Skizzenblock aus der Brusttasche seines Hemdes " Mi fa un ritratto - malen Sie mich?" wurde er von einem jungen Herrn im purpurroten Gewand vom Nebentisch gefragt. "Gern mache ich ein Porträt von Ihnen". Giovanni sah dies als einen Scherz an, den er sofort aufnahm. Dieses Metier beherrschte er, hatte sein Vater es ihn doch in den unzähligen Stunden an der Staffelei gelehrt.
Mit einem Kohlestift fing er den Umriss des ausdruckstarken Gesichts ein; der Blick des Mannes war unglaublich ernst, die hellen Augen blickten ins Weite. Normalerweise hatte Giovanni die Gewohnheit, sein Modell besser kennenlernen zu wollen-dies bereitete ihm besonders beim Porträt der Loredan-Tochter grosses Vergnügen - doch bei diesem Modell war es anders: der intensive Blick und die markante Mund-Nasen-Partie liessen sich ohne weiteres in wenigen Strichen festhalten. Die äusseren Kennzeichen des Mannes, sein schwarzes Samtbarett und seine füllige hellblonde Haarpracht, die in der Stirn zu einer Rolle gedreht war, liessen sich als
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