Das Musterbuch (German Edition)
grossartigen Sammlung antiker Stücke des 'Maestro' Squarcione." Beim Wort Maestro konnte sich Andrea kein übertriebenes Ausdehnen des ersten Vokales verkneifen, denn der Meister war bei seinen Schülern nicht sehr beliebt.
"Na, da siehst du, wozu unsere ersten Jahre uns nützlich waren, mein Lieber! Stimmt es eigentlich, dass die Bellini-Familie bald hierher kommt?" "Du weisst aber schon alles, Carlo! Ja, ich werde meinem Freund Jacopo und den Schwagern bei mir ein Plätzchen im Atelier einrichten. Ansonsten werden wir uns wohl kaum stören, es sei denn, der Jüngere der Brüder rückt mir in meiner geliebten Ovetari-Kapelle auf die Pelle. Wir können uns nämlich nicht riechen...." Carlo lachte schallend auf, denn so abfällig sprechend hatte er ihn kaum je erlebt.
Danach berichtete Carlo beim Hinausgehen vom eigentlichen Grund seines Erscheinens. Er suchte Abstand zu einer ganz persönlichen Geschichte, seiner Liebesromanze mit einer verheirateten Frau, namens Tarsia. Tarsias Mann, Matrose von Beruf, war für seine Brutalität bekannt, und wenn dieser ihre Liebschaft entdecken würde.... Andrea riet dem Freund, sich durchs Malen abzulenken; dieser aber, von Natur aus unstet, wollte schon morgen wieder seine Reise nach Massa Fermana fortsetzen. Das Gespräch über die Perspektive sollte später den venezianischen Maler Crivelli zu grossartigen Bildkompositionen anregen.
Kapitel XI
anno 1455
Andrea war auf das Gerüst gestiegen, um seinen Entwurf in Sinopia auf dem arriccio mit der intonaco -Schicht zu bedecken. Die Farbpigmente für die Mutter Gottes hatte er bereits ausgewählt. Nachdem die oberste Schicht zur Bemalung präpariert begann Andrea den mit bianco di San Giovanni aufgehellten blauen Farbton für den Mantel auszuführen. Das Gesicht der Madonna wurde recht blass, Andrea erinnerte sich dabei an den Teint seiner leidenden, schwachen Frau nach der Geburt ihres toten Kindes. In grossem Schwung führte er die fliegenden Puttini aus, immer mit einem Blick auf seine Skizzen von der Scrovegni-Kapelle.
Fast wäre er von Gerüst gefallen und sein garzone konnte gerade noch die Palette auffangen, so sehr erschreckte er sich über den harschen Ton von unten einer Stimme, die ihn an schlimme Zeiten erinnerte: "Was für ein Kadaver! Was für eine Blasphemie! Denkst du etwa, deine Gottesmutter könne durch das massive Gewölbe steigen, das du ihr wie ein Höllentor über den Kopf gesetzt hast?" Mit diesen Worten machte der alte Maestro Squarcione auch schon wieder kehrt aus der Kapelle, so dass Andrea gar nichts mehr erwidern konnte. Nur Gram und Abscheu blieben im Herzen des begabten Malers zurück, der den Neid in der Stimme des Älteren sehr wohl vernommen hatte. Wie, um sich an sein Werk zu klammern, malte Andrea den Lieblingsjünger Christi, Johannes, am unteren linken Bildrand, indem er einen Pfeiler umgriff. Im Rot der Mäntel der Apostel dort unten drückte er all seine Wut und Hitze aus, die ihm in Erinnerung an den Besuch Squarcione aufstieg.
"Fertig!" Dieses nahezu in einem giorno gefertigte Fresko konnte erst auf Abstand richtig betrachtet werden. Gerade hatte der garzone das Gerüst aufgebaut, trat er näher zu seinen Maestro: " Bravissimo e intimo ", der Junge hatte begriffen, worauf es Andrea ankam: hierin war die Ausweglosigkeit seiner Gefühle am Krankenlager seiner Frau verbildlicht. Und nur mit aller grösster Anstrengung vermochte diese – die hier als Modell für die Mutter Gottes gedient hatte - die Mauer seines Leidens zu durchbrechen.
Noch immer belastete Andrea die hinter ihm liegende Zeit in Venedig. Das spürte er vor allem jetzt, in Zeiten der Ruhe. Immer wieder überlegte er, mit welcher Szene aus dem Evangelium er sein persönliches Schicksal malend bewältigen könne. Hatte er nicht selbst seinem Freund Carlo den Tipp gegeben, seinen Liebeskummer so zu therapieren? Ein Blick auf die in der dunklen Nische melancholische Heilige Euphemia sagte ihm, genug der tristen Darstellungen von Nicolosia!
Es entstand danach ein Wunderwerk: die Präsentation Christi im Tempel vor Simeon.
Hier konnte er alles hineinlegen, was ihn beschäftigte: das wie eine Mumie verpackte geliebte Kind, das er nie kennenlernen sollte, seinen Schwiegervater Jacopo, gezeichnet durch die Sorge um seine Tochter, ganz aussen seine Frau und auf der anderen Seite er selbst, zwei Liebende, die weit voneinander getrennt waren. Lediglich Maria und der Priester waren freier Phantasie
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